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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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in seinen Mund gelenkt hatte.
Seine Tat, mit Vernunft, mit Überlegung, mit dem seelischen Werkzeug
des Menschen getan, hatte ihn so unwiderstehlich zum Wort, zum
Bekenntnis gedrängt und gehetzt, bis er sich selbst Stillschweigen mit
furchtbarer Macht hatte gebieten müssen.
    Der Winter verging schnell, Ende Februar war schon der Himmel
wie verklärt, in den Stunden des Mittags war die Luft zart
durchleuchtet und durchwärmt von Sonne. In diesen Stunden drängte sich
in mächtigen süßen Schwaden der Frühlingsduft der Erde durch das
geöffnete Zellenfenster. Die ergebene, fast friedliche Stimmung, die
Fritz in den letzten Wochen erfüllt hatte, steigerte sich mit dem
Erwärmen, Erwachen, Schwellen und Wachsen alles Lebendigen in der Natur
in ihm zu erregter Fröhlichkeit, zu einer aus ihm selbst
hervorsteigenden Freude, zu einem glücklichen Lebensgefühl. In dem
Mittagsstrahl der einfallenden Sonne stehend, die Augen geschlossen,
mit zurückgeneigtem Kopf, die Hände, nach der zuchtvollen Gewohnheit im
Schlafe, auf dem Rücken gefaltet, sang er vor sich hin, mit hoher,
sanfter, schöner Stimme, wie einst in der Heimat, und es klang so
rührend und schön, daß der Wärter sich nur schwer entschloß, es ihm zu
verbieten, wenn es zu lange dauerte oder zu laut wurde, übrigens
brauchte der Wärter kein Wort zu sagen, sein Eintritt in die Zelle
genügte, um den Gefangenen sofort zum Schweigen zu bringen. Denn Fritz
war menschenscheuer als je zuvor. Ihm waren die gemeinsamen
Spaziergänge mit den anderen Gefangenen eine Qual. Er sprach mit
keinem. Mit gesenktem Blick, festverschlossenem Munde, die Hände
krampfhaft in den Falten seines Kittels verborgen, ging er mit
unsicheren, verlegenen Schritten im Kreis der anderen mit, und als
erster schlüpfte er schnell und nun plötzlich wieder sehr gewandt in
seine Zelle zurück. Auch vor sich selber verbarg er sich weiter mit
angstvoller Sorgfalt, mit der größten Schnelligkeit wechselte er seine
Kleider, nachts barg er immer die gefalteten Hände in den Rücken und
schlief den traumlosen, durch den Schmerz der zusammengepreßten Hände
aufgestachelten Schlaf, aus dem er jederzeit schnell erwachen konnte.
    In einer Nacht aber, die eiseskühl auf den sonnedurchwärmten
Frühlingstag folgte, erwachte er, von brennendem Durst gequält.
Erstaunt hörte er sein Herz pochen in weiten, ausholenden Schlägen,
sein Mund glühte, fühllos stieß die schwere, trockene Zunge in seiner
Höhle umher. Er richtete sich auf, nahm die gelähmten Hände hinter dem
Rücken hervor, löste sie, dann stand er auf, tappte nach seinem Krug
mit Wasser und trank. Doch er kam nicht dazu, das Wasser in schnellen,
durstigen Zügen zu trinken. Der erste Schluck, der kühl und wohlig
seine glühende Mundhöhle durchwogte, überströmte ihn mit einem Gefühl
der Wollust: seine ausgetrocknete Zunge, nun wieder zu Gefühl erweckt,
umschmeichelte die sich lau erwärmende Flüssigkeit, bis er endlich den
Schluck mit sanftem Druck gegen die Kehle rinnen ließ. Danach lachte
er, sein altes, furchtbares, lautloses, ihn völlig erschütterndes
Lachen.
    In der Zelle war es dunkel, kein Mond schien, nah und schwer
lag der Himmel vor dem kleinen Fenster, besteckt mit einem Stern,
winzig und weiß, ohne Licht und Schein. Luft und Stille waren unbewegt,
kalt. Nicht Sterben, nicht Leben schien in dieser Stunde zu sein, die
zwischen Nacht und Morgen schwebte. Das Lachen des Gefangenen verging,
vom Boden stieg Kälte auf, schnitt ihm wie unsichtbare Schläge von
Ruten in Beine und Rücken, und in diesem Schmerz verging noch einmal
das lockende Pochen seines Herzens. Leer, ertötet fiel sein Körper
nieder, es war nicht Schlaf, nicht Wachen, was ihn umfing. Das Wasser
des Kruges, der umgestürzt war, lief mit noch tieferer Kälte als der
des Bodens in kleinen Rinnsalen ihm um Schultern, Nacken und Rücken,
und er sagte plötzlich leise: »Ich habe schwer getragen, Herr.«
    Als er wieder erwachte, war es frühe Morgendämmerung. Der
Himmel war dem kleinen Fenster wieder entrückt, Luft und Wolken in
mattem Weiß schwebten hoch, leises Rauschen klang durch die Stille wie
zarter Wind oder weicher Regen, ganz fern erklangen auch menschliche
Laute, Schritte auf Erde. Mühsam richtete Fritz seinen erstarrten
Körper vom steinernen Boden der Zelle auf. Sein Hemd war im Rücken naß,
um ihn standen still und dunkelglänzend die Lachen des vergossenen
Wassers. Er fühlte

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