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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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die Erinnerung an die kleine Anna. In dem
zitternd bewegten, goldenen Glanz des Lichtes, das den Raum des
Fensters erfüllte, in dem jubelnden Schwung des Vogelfluges, im
trillernden Ruf des Vogels begegnete ihm ihre zarte Gestalt im
tanzenden Gang, ihre wie Federn schwebenden Locken des Haares, ihr
Lachen aus geöffnetem, rosig schimmerndem Mund. Nicht als Opfer des
Mörders, bleich, tot, anklagend und rächend, sondern als lockendes
Bild, als einzige Erfüllung des Verlangens erschien sie ihm. Er
streckte die Arme aus, er beugte sich der Erscheinung entgegen, er
umfaßte die leere Luft, er stürzte zu Boden. Er wälzte sich mit dem
Leib auf dem aufgelösten Bündel des Rohres umher, er verstrickte seine
gierig sich auf- und zukrampfenden Hände in die feinen, glatten, doch
scharf schneidenden Fäden, er umknotete beide Hände mit ihnen, zog die
Schlinge mit den Zähnen fest, bis aus tiefen Schnitten Blut von den
Händen rann. Es sickerte langsam, dicht vor seinem über die Hände
gelagerten Blick als gewaltige, rotglänzende, wandelnde Berge vorüber,
deren Zug er enden sah auf dem Geäst der Arbeit, die neben ihm lag.
    Das erschreckte und erweckte ihn. Mit noch eisenhart
gespannten Gliedern erhob er sich und blickte verstört auf die wilde
Unordnung in der strengen, kleinen Zelle umher, auf die zerstreut
liegenden Rohrfäden, auf den umgestürzten Rahmen der Arbeit, auf den
verschobenen Schemel. Ratlos betrachtete er das langsam hervorquellende
Blut an seinen Händen. Er fürchtete, daß es niedertropfen und das Rohr
und die Zelle beschmutzen könnte, er fürchtete sich aber auch davor,
die Hände an seinem Kittel abzuwischen oder das Waschwasser rot mit
ihnen zu färben, denn überall sollte Ordnung sein. So wendete er die
Hände hin und her, erhob und senkte sie, und die Blutbahnen, immer
wieder zurückgeleitet von den Bändern der Hände, bedeckten sie nach und
nach wie ein Netz. Er sah darauf nieder, und das Angesicht der Mutter
stieg auf, weiß und durchzogen von dem roten Netze der Wundnarben. Er
rieb die Hände ineinander, so daß sie sich schnell mit gleichmäßigem
Rot um und um bedeckten, mit der Zunge wusch er sich die Fingerspitzen
sauber, wobei er mit Zorn und Traurigkeit sein eigenes Blut schmeckte.
Er löste mit großer Vorsicht seine Kleider ab, er wollte an dem
äußersten Rand des Hemdes die blutigen Spuren verbergen, das Netz der
Wundnarben, das Angesicht der Mutter auslöschen, als er plötzlich, im
letzten Augenblick noch zögernd, das Hemd zu beschmutzen, auch dieses
vorsichtig mit den Fingerspitzen forthob und die Hände an seinem
nackten Leib abwischte. Er hielt wieder die Augen geschlossen, den Kopf
von sich selbst abgewandt, doch fühlen mußte er die Berührung mit sich
selbst, die wie ein gewaltiger Hieb, wie ein bis zum Innersten
durchstechender Schlag ihn traf. Ausgewichen war er immer dem Anblick
seines Leibes, verborgen gehalten hatte er sorgfältig vor Blick und
Gedanken, was die Mutter entblößt und erkannt hatte. Jetzt aber, mit
der von dem aufdonnernden Herzen eisern beengten Brust, warf er sich in
der Mutter Umarmung, die ihn hatte töten wollen, jetzt, wo er seinen
Leib mit den blutenden, geballten Fäusten schlug, wo er seine
ausgespreizten Finger in die harten und doch in der Härte furchtbar
erzitternden Stränge seines Fleisches bohrte, wollte er sich selbst
zerfetzen, wollte sich totschlagen, wie sie ihn beschworen hatte.
    Feuchtigkeit von Schweiß, Blut und Lust benetzten seinen
Körper, Tränen aber in Strömen sein Gesicht.
    Lange stand er noch in dem hellen Sonnenbrand des Märztages,
ermattet von Schlägen, von tödlichen Griffen gegen sich selbst, bis zum
Herzen erschüttert von Schmerz. Er hob das tränenüberströmte Gesicht
dem kleinen, lichterfüllten Fenster entgegen, in dem zwitschernd der
Vogel, lockend die Luftgestalt der kleinen Anna ihm erschienen war. Er
dachte an sie, und leises Schluchzen erschütterte seinen Körper. Er
wußte, daß er einst das Furchtbare mit ihr getan hatte, was er jetzt
gerne sich selbst getan hätte. Er wußte, daß er sich nach Mord sehnte,
und daß er verloren war.
    Eine vom Frühlingswind getragene weiße Wolke verdeckte im
weich treibenden Flug die Sonne, im Schatten war das lichterfüllte
Fenster. Den Leib noch entblößt, mit müden, langsamen Bewegungen
sammelte Fritz das Rohr vom Boden auf, bündelte es wieder und stellte
es in die Ecke. Er hob den Rahmen mit der

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