Das verlorene Kind
so eine, die versteht
von den Männern nichts. Sie will nichts von den Männern wissen,
verstehst du, da laß dir lieber von mir sagen. Ich bin dein Vater, ich
habe dich nicht vergessen. Ich freue mich, daß es so mit dir gekommen
ist Jetzt will ich dir etwas sagen: du hast doch nichts gestanden? Du
brauchst dich nicht bei dem Urteil zu beruhigen. Du mußt appellieren,
verstehst du? Appellieren, so sagt auch der Verteidiger, ich habe mit
ihm gesprochen, und er meint das, und ich meine das auch. Verstehst du?
Und morgen ist die Zeit um. Ich bin dein Vater, und ich sage dir, du
mußt Appellation einreichen.«
»Wenn die Strafe zu viel ist«, sagte Fritz, den Blick
verfangen in des Mannes kleine, wasserfarbene Augen, aus denen er aber
eine ihm verwandte, böse Kraft ihm entgegenströmen fühlte, die ihn
bezwang. »Wenn die Strafe zu viel ist, dann will ich das tun, dann will
ich die Appellation einreichen. Du bist ja mein Vater.«
»Jawohl. Nun mache die Sache so. Ich sage es dem Verteidiger.«
Er sah den Sohn von oben bis unten an, während seine endlos breiten,
geöffneten Lippen erzitterten, und seine Stimme, die sonst bei jedem
Wort gewaltig gedröhnt hatte, flüsterte, als er sagte: »Wie die Mutter
siehst du aus, du bist ja schön. Schön bist du ja wie die Mutter, aber
innen, da ist der Vater, was?«
Fritz schwieg und blickte ihn ernst an.
»Na, adjüs, du Aas«, sagte der Vater plötzlich, wieder laut
und dröhnend, drehte sich um und ging mit schweren, stampfenden
Schritten hinaus.
Mit heißem, dunkel gerötetem Gesicht kam Fritz in die Zelle
zurück. Er durchwanderte sie mit stürmenden Schritten, er pfiff so
laut, daß der Wärter es ihm verbieten mußte. Er schleuderte seine
Arbeit in die Ecke. Spät am Abend schlief er erst ein und drängte am
Morgen in aller Frühe, daß er vorgeführt sein wolle. Gegen Mittag kam
er wieder in die Gerichtskanzlei und gab eine zweite Erklärung ab: »Ich
habe mich anders bedacht, nehme meine Erklärung, mich bei dem gegen
mich ergangenen Straferkenntnis zu beruhigen, hiermit zurück und
appelliere gegen das Urteil vom 6. Dezember dieses Jahres.«
Diese Erklärung wurde durch den Verteidiger gerechtfertigt und Mitte
März des folgenden Jahres verhandelt.
In der Zwischenzeit war der Gefangene sichtlich verändert.
Sofort nach dem Besuch des Vaters fiel dem Wärter sein trotziges Wesen
auf. Zwar arbeitete er fleißiger noch als früher, säuberte seine Zelle
sorgfältig, wie immer, doch sprach und grüßte er überhaupt nicht mehr,
und wiederholt mußte ihm der Wärter sein herausforderndes Singen und
Pfeifen verbieten. Am tiefsten war der Pfarrer durch ihn enttäuscht,
als er, statt des reuigen Geständnisses, die Kunde von der Appellation
vernahm. Auch wies jetzt der Gefangene seine Worte und Ermahnungen
zurück, sobald sie auf seine Tat und deren Geständnis und Reue
hinzielten. Doch hörte er weiterhin die Predigten, und besonders in der
inzwischen genahten Weihnachtszeit das Evangelium von Christi Geburt,
mit sichtbarer Andacht und Freude an. Der Geistliche sah, wie dem
Mörder, dem verlorenen Sünder in seinen Augen, Gott unerschütterlich
nur Sonntag, Ruhe, Feier und Freude bedeutete. Er dachte lange darüber
nach, und traurig erkannte er, daß es ihm nie gelingen würde, diesen
Menschen zu Gott zu führen, wie er es verstand, Gott ihn begreifen zu
lassen in seinen Geboten, seiner Strafe und erlösenden Gnade. Des
Sünders Seele war nicht gottergeben. Aber Gott mußte ihr ergeben sein.
Über dem verlorenen Samenkorn aus dem Gleichnis des Heilandes schien
schützend der Schatten von Gottes Hand zu schweben, daß es nicht
verdorre. Denn wie war es sonst möglich, daß der Mörder beten konnte,
ja mit Freude und Glauben beten konnte, Gottes Namen anrufen, ohne auch
vor Gottes Strafe zu erzittern, ohne in Reue sich zu zermartern, ohne
von den Qualen des Gewissens zerrissen zu werden? Der Geistliche ließ
ab, von der Tat des Mörders zu sprechen. Wenn er weiterhin mit dem
Gefangenen betete, unterwarf er sich ihm, ließ von ihm die Bibelstellen
bestimmen und die Gebete und Gesänge auswählen.
Reue und Gewissensqualen erschütterten die Seele des Mörders
nicht. Durch des Vaters Anblick, durch seine Worte, sein Lachen, das
der Sohn tief in sich widerklingen fühlte, war er von neuem in Trotz,
in stumpfe Ruhe, in kalte Heiterkeit versetzt. Die schreckensvolle
Erinnerung an die Mutter war für lange vertrieben.
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