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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Berufung, er dachte längst nicht mehr daran, daß
er sich gegen seine Strafe aufgelehnt hatte.
    Am Weihnachtsfest erhielt er ein Paket mit Kuchen, von dem er
aber nicht wußte, daß sein Herr Christian B. es ihm hatte
senden lassen. Am zweiten Feiertag wurde er wieder in die Besuchszelle
geführt. Er fürchtete, seinen Vater wiederzusehen. Aber nicht dessen
ungeheure Hünengestalt wandte sich ihm entgegen, sondern schmal
zwischen die Stäbe des Gitters gezwängt, so daß nur die dürftigen,
abfallenden Schultern verdeckt waren, sonst aber der ganze magere
Körper, mit dem Höcker im Nacken, mit dem kleinen listigen Gesicht
sichtbar war im Zwischenraum der Gitterstäbe, stand sein zweiter
Dienstherr, der Schultheiß Mandelkow, vor ihm. Auch er lachte ihm
entgegen, doch es war ein leises Kichern. Er sprach gedämpft,
flüsternd, in grober Erregung. »Na, hast du ein schönes Christfest
gehabt, Junge du?«
    Fritz schwieg.
    »Du redest nicht? Nicht einmal mit mir?« Er sah Fritz lange
an, Qual und Bosheit zeigten sich zugleich auf seinem Gesicht. »Ich
habe dir Geld gebracht,« begann er dann wieder, »im Stall haben wir
gemistet, da habe ich deinen Schatz gefunden.« Er zog, ohne seinen
Blick von Fritz zu wenden, die mit weißem Papier umwickelten
Talerstücke aus seiner Tasche.
    »Ich brauche hier kein Geld«, sagte Fritz.
    »Du darfst es ja gar nicht haben, du dummer Junge,« kicherte
sein Herr, »ich weiß wohl, was sich gehört hier an diesem Ort, ich weiß
ganz genau, wie es in einem Gefängnis sein muß, wenn ich auch nicht
drinnen bin. Du darfst jetzt das Geld nur sehen, dann gebe ich es ab,
unten, bei der Direktion, da wird es gut verwahrt, bis du es mal wieder
selbst vergraben kannst. Du Armer, immer hast du vergraben, und die
anderen graben es wieder auf, was?« Er lächelte, schob seinen Kopf mit
emporgerecktem Kinn durch die Stäbe hindurch, während seine stechenden
Blicke zwischen halbgeschlossenen Lidern dünn wie der Glanz von Nadeln
hervorschossen. Fritz wich, obgleich durch doppelte Gitter von ihm
getrennt, einen Schritt zurück, doch warf er seinen Kopf trotzig hoch
und zuckte geringschätzend die Achseln. In das Gesicht des Schultheißen
schoß eine helle Röte der Wut, hastig begann er zu sprechen: »Na, ja,
du bist stolz, du hast Berufung eingelegt. Warum denn? Du bist zu dumm!
Köpfen wollen sie dich doch nicht. Warum hast du nicht gestanden, wie
alles fertig war? Da hättest du doch reden sollen. Du bist zu dumm. Ich
hätte ihnen alles gesagt, wie gern hätte ich alles erzählt, ganz genau
erzählt, wie alles gewesen ist, sollen nur die anderen es wissen, was
für einer man ist. Du bist immer still und redest nicht, rede doch,
dann ist alles so leicht, dann ist gar nichts mehr schlimm. Du
vergräbst das wohl auch? Wohin vergräbst du denn das in dir, he?« Er
schwieg, schöpfte keuchend den Atem aus seiner engen Brust, seine Augen
waren jetzt geöffnet und glitzerten wie in Hitze oder Feuchtigkeit
Fritz konnte ihm nichts antworten. Nach und nach beruhigte sich der
Schultheiß, zog seinen Kopf zwischen den Stäben zurück und fragte nach
einer Weile weiter: »Nun, erzähle doch, wie geht es dir hier?«
    »Die Strafe ist milde«, sagte Fritz.
    »Die Strafe ist gut, ja, Strafe ist gut«, sagte der
Schultheiß. Seine Stimme, sein Gesicht waren plötzlich wie erloschen,
sein Blick war weit geöffnet, weich wandte er sich seitwärts, mit
sehnsüchtigem Ausdruck wie in weite Ferne versinkend; er stand ganz
still, nur seine Brust flog, die Erregung ausatmend, in Stößen auf und
nieder. Große Ruhe herrschte plötzlich im Raum. Nach einer langen
Weile, in der nichts geschah, kein Wort fiel, kein Blick gewendet
wurde, kein Glied gerührt, erhob sich endlich der Wärter von seinem
Platz und trat mahnend auf den Schultheißen zu. Der erwachte aus seiner
Versunkenheit, sah nicht mehr nach Fritz hin, sagte mit müder Stimme
zum Wärter: »Ich habe ihm gut zugeredet, aber er ist verstockt. Er wird
aber noch reden, er wird bestimmt noch einmal reden«, und dann ging er
hinaus.
    Fritz wurde in die Zelle zurückgeführt. Er dachte nicht weiter
über die Worte des Schultheißen nach, denn nicht zu reden drängte ihn
seine Tat. Den Schultheiß aber fand sein Gesinde am Morgen des
Neujahrstages mitten im Moor mit zerschmettertem Schädel liegen; den
rechten Fuß hielt er noch mit einer Schlinge an den Hahn der Flinte
geknüpft, mit deren Lauf er den Schuß

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