Das verlorene Kind
Erinnerungen kommen an den Teich der Heimat; hatte
er nicht jetzt eben auch Ruten getragen, die peitschten gegen Beine,
Rücken, Schultern und Nacken? Nein, denn er hatte auf kaltem Boden
gelegen, aber damals war er aufrecht im heißen Sommer gegangen. Schnell
ergriff er sein Handtuch und trocknete das Wasser vom Boden auf, bis
nur noch eine geringe Spur von Feuchtigkeit zurückblieb. Dann schloß er
die Augen, zog schnell das Hemd aus, breitete es, mit dem durchnäßten
Rücken nach oben, im Bett aus, legte sich selbst darauf, während er das
nasse Handtuch über seinem Leib ausbreitete. So wollte er alles
trocknen und in Ordnung bringen. Gebettet in naßkaltes Gewebe, schlief
er in trauriger Besänftigung nochmals ein, bis ihn der Wärter weckte.
Ein herrlicher Frühlingstag stieg herauf. Früh schon war die
Sonne da, durch eine klare, von Winterkälte noch gläsern reine Luft
funkelten ihre warmen, alles gierig liebkosenden, lockenden Strahlen.
Der Duft der Erde, erweckt durch die Wärme, stieg süß und schwer auf
zur Luft, als wäre er der zurückgeatmete Kuß der sich umarmenden
Elemente. Nicht sahen die Gefangenen die Gräser sprießen, Blumen und
Blätter der Bäume wachsen, Menschen und Tiere freier sich bewegen, nur
im Atem der wild berauschten Luft, der durch die Fenster des
Gefängnisses drang, sogen sie den Frühling in sich ein.
Fritz saß, Haupt und Rücken umwogt von der gierigen Wärme,
gebeugt über seiner Arbeit, durchzog den Holzrahmen eines Stuhlsitzes
mit einem Geflecht aus feinen gelblichen Rohrfäden, die, regelmäßig in
einer Länge von einem Meter geschnitten, in dicken Bündeln an der Wand
lehnten. Er bekam von der Verwaltung des Gefängnisses nur diese Arbeit
zugewiesen, da er sie mit besonderem Fleiß und mit einem gewissen
Geschmack ausführte. Seine Hände flogen, schnell und fehlerlos bildete
sich unter ihnen das Muster der Sterne mit dem Kreis, von ihm selbst
erfunden. Doch seine Knie zitterten, seine Augen waren blind, sein Ohr
war umtobt von dem Rauschen seines Blutes, das aufgestachelt war von
der Wärme der Sonne. Ein Tropfen Schweiß rann von seiner Stirn und
hielt zwischen den Wimpern seines rechten Auges, stand da still wie
eine Träne, und vor seinem geblendeten Blick dehnte er sich im
Silberglanz zu einer weiten Fläche. Wasser, unbewegt, flirrend wie
glühendes Metall, war um ihn. Sein blondes Haupt, stetig umspielt vom
Glanz der Sonnenstrahlen, sank tief zurück in den Nacken, seine Augen
schlossen sich, das glitzernde Wasser verrann, doch weit öffnete sich
sein Mund, zwischen den schlotternden Kiefern entglitt Lachen ohne Laut
und Ton. Die Arbeit fiel aus seinen Händen mit hartem Schlag auf den
Steinboden nieder. Fritz sprang auf, glitt mit weichen, tief in die
Kniee einbeugenden Schritten in der Zelle umher, das Lachen noch immer
um den aufgerissenen, vollen Mund, die Hände warf er empor, streckte
sie aus, öffnete und ballte sie in leeren Griffen, bis er plötzlich ein
Bündel des Rohres packte, es hoch schwang, es weit über den Kopf
emporwarf und es sich dann, wie schwere Last, auf den gebeugten Rücken
lud.
Er wanderte weiter in der Zelle umher, doch die Last war nicht
schwer, schlug nicht scharf und peitschend gegen ihn, leise knisternd
tanzte sie mit seinen Schritten auf und ab, glatt und zart streichelte
sie mit dem einen Ende der Spitzen seinen Nacken, mit dem anderen seine
Beine. Da packte er sie fester, preßte sie zwischen seine Hände, duckte
sich tief, hob sie über dem Nacken empor und schlug sie in sausendem
Schwung nieder gegen seinen Rücken; wieder und wieder schlug er sich
selbst, aber er konnte nicht die Schmerzen wie einst empfinden, die ihn
bis zu besinnungsloser Wut berauscht hatten, weich und federnd
schnellten die zarten Fäden des Rohres zurück, ermüdet ließ er sie zu
Boden fallen.
Er stand still, keuchte, finster war sein Gesicht von Röte,
zuckend öffneten und schlossen sich seine Hände. Gier, Wut und Kälte
zugleich erfüllten ihn. Seine Augen, aufgerissen, verdunkelt, hart
glänzend wie Lack, starrten empor zu dem kleinen, von goldenem Licht
erfüllten Fenster, gegen das plötzlich, in einem scharfen Bogen
heranfliegend, mit schrillen, langtrillernden Lauten und bebenden
Schwingen ein Vogel stieß, eine Sekunde lang sich niedersenkte im Flug
und dann zurücktauchte in den Äther.
In diesem Augenblick und in dieser Erscheinung traf Fritz zum
erstenmal klar und deutlich
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