Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
Vom Netzwerk:
Aufsehers an die
Direktion die Bitte, ihn aus der Einzelhaft zu entlassen, was ihm ein
Jahr später auch als Belohnung für sein gutes Verhalten gewährt wurde.
Er lebte nun unter anderen Menschen, schlief mit ihnen gemeinsam seinen
bis in den Traum beruhigten Schlaf. Sehr selten, nur in den
Jahreszeiten, wenn der Frühling aus dem Winter hervorbrach oder der
Sommer in den Herbst versank, mußte der Gefangenenaufseher ihn nachts
wecken, da er mit zusammengekrampften Kiefern die
ineinandergeschlagenen Zähne laut knirschend bewegte. Wurde er so
erweckt, war er zornig, stieß mit den Füßen nach dem Wärter und dann
noch lange gegen die Eisenwand des Bettes. Am Tage darauf war er dann
traurig, arbeitete nicht und aß nicht. Dann ging das alles auf lange
Zeit wieder vorüber. Mit den anderen Gefangenen sprach er wohl und wich
ihnen auch nicht mehr aus, doch schien er gleichermaßen unempfindlich
gegen ihre Tücken und Roheiten wie gegen ihre Freundlichkeiten zu sein.
Durch seine ununterbrochen gute Führung kam er in den Arbeitssaal für
Bevorzugte. Er ging regelmäßig in die allgemeine Andacht, doch allein
betete er nie mehr. Die Wärter, Aufseher und auch der Direktor sprachen
alle gern mit ihm. Auf vielerlei Weise versuchte man immer noch, ihn
zum Geständnis zu bringen. Zwar wiederholte er nie mehr seine früheren,
schnell und bestimmt geäußerten Beteuerungen: »Ich habe nichts getan,«
doch er schwieg, sah wie träumend an allen vorbei ins Leere, und
fassungslose Traurigkeit lag auf seinem schönen, engelhaft geglätteten
Gesicht. Und so mußten alle, die wohl nach bestem Wissen seine Tat
erforscht und verurteilt hatten, die Hoffnung auf die letzte
Befriedigung ihres Gewissens aufgeben, die Welt mußte es aufgeben, das
Geheimnis, das über dem Verschwinden des kleinen, schönen Kindes
Anna B. und dem Auffinden der Leiche lag, je wirklich zu
erfahren.

IX
    Im dreizehnten Jahre der Gefangenschaft von Fritz Schütt
meldete sich bei der Gefängnisdirektion sein früherer Dienstherr
Christian B. Er fragte, ob der Gefangene noch lebe und gesund
sei, und wie er sich geführt habe. Man beantwortete erstaunt seine
Fragen und fragte ihn zurück, ob er ihn denn besuchen wolle.
Christian B., der mit niedergeschlagenen Augen die ganze
Unterredung geführt hatte, senkte für eine Weile nachdenklich das weiße
Haupt, schüttelte es dann verneinend und bat nur, man möge den
Gefangenen bei Entlassung aus dem Gefängnis mit seinen Papieren als
Ausweis nach Nieder-Sch. in sein Haus schicken, er wolle ihn da
aufnehmen; weiter erlegte er einen Betrag von fünf Talern für die Reise
dahin.
    Der Gefängnisdirektor, der bei der Unterredung zugegen war,
reichte ihm zum Abschied bewegt die Hand, die Christian umständlich,
als fände er sie nur schwer, ergriff, und jetzt schlug er auch zum
erstenmal seine Augen auf. Er enthüllte einen Blick voll gewaltigen
Ausdrucks, der aber nicht zu begreifen war, denn er schien ohne jedes
menschliche Zeichen und doch wieder völlig durchtränkt von jeglicher
menschlichen Erkenntnis, er schien wahnsinnig und doch klar, seherisch
und doch blind. Der Direktor, der voll Neugier diesen Blick erwartet
hatte, wich ihm verwirrt und beschämt aus, und als er wieder
zurückblickte, waren die Augenlider des anderen schon wieder gesenkt,
schwer, in unzählige Falten gerunzelt, verhängten sie die Augen, die in
den zurückgesunkenen, durchfalteten Höhlen lagen, geschützt unter dem
Dach der vorspringenden, hohen, matt schimmernden, noch immer glatten
Stirn. Die Gestalt Christians, der jetzt siebenundfünfzig Jahre zählte,
war noch immer hoch, sein Rücken war ungebeugt von Alter und Arbeit.
Aber um die schmal zur Brust geneigten Schultern, um den mageren, von
weißem Haar tief herab bedeckten Nacken lag das Zeichen der gebrochenen
seelischen Kraft, von dem schneeweißen, weich hängenden Haar und Bart
wehte die verstummte Trauer.
    Der Gefängnisdirektor, klein, dick, jung, mit glattem, rotem
Gesicht, sprach: »Es ist schön, es ist christlich von Ihnen gehandelt,
wenn Sie sich des verlorenen Menschen annehmen, der Ihnen einmal so
Böses tat. Wahrhaftig, Sie sind ein Nachfolger im Geiste Christi, und
im Namen der gesamten humanen, fortgeschrittenen Menschheit danke ich
Ihnen für Ihren großmütigen Entschluß.« Er schwieg einen Augenblick,
doch Christian B. antwortete nicht, sondern hob und senkte nur
langsam und sanft die Schultern.
    »Denn

Weitere Kostenlose Bücher