Das verlorene Kind
geschnitten, du möchtest wohl gern ins Spital kommen? Aber wegen so ein
paar Wunden geht das nicht, und dort ist es auch nicht schöner als
hier. Seit wann bist du nur so ungeschickt?« So schalt ihn freundlich
der Wärter und brachte ihm Wasser zum Waschen der Wunden. Am Abend war
trotz der zerschnittenen Hände die Arbeit fertig und der Rahmen in
sauberem Muster ausgeflochten. Das Rohr schien aufgebraucht. In der
Nacht fiel Regen, in lauen, weichen Schwaden niedersinkend. Am Morgen
fand der Wärter den Gefangenen vor seinem Lager in tiefer Ohnmacht
liegend, seine Hände zwischen den übereinandergeschlagenen Schenkeln
verborgen, wo sie ein furchtbares Knäuel von Fleisch, Haut und
geronnenem Blut, durchschnitten und umstrickt von feinen, scharfen
Rohrfäden, umschlossen. Man brachte ihn in das Spital des Gefängnisses,
wo man den Ohnmächtigen nach einer schnellen Untersuchung tiefer noch
einschläferte und seinen von ihm selbst zerfetzten und verwundeten Leib
behandelte und verband.
Zu gleicher Stunde tagte das Appellationsgericht, verwarf die
Berufung und erkannte die erste richterliche Entscheidung zu Recht an.
Im Gerichtssaal, in unmittelbarer Nähe des Verteidigers, saß der Vater
des Angeklagten, der sich bei dem Spruch des Gerichtes erhob und unter
einem furchtbaren Gelächter den Saal verließ. Am nächsten Tage erschien
er im Gefängnis und verlangte seinen Sohn zu sprechen. Man führte ihn
in den Krankensaal. Er fragte den Aufseher nach der Krankheit seines
Sohnes. »Er hat sich da selbst etwas getan,« sagte der ruhig, »das
kommt oft hier vor.« Der Vater schob sich mit seinen schweren Schritten
zum Bett des Sohnes.
Fritz saß aufrecht, hatte auf den Knien ein Brett liegen, auf
dem er in Vierecke geschnittenes Papier zu Tüten faltete. Er hatte bald
nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit um Arbeit gebeten. Er sah
nicht zu dem Vater auf und arbeitete still weiter. Auch der Vater
schwieg lange. Dann sagte er mit seiner dröhnenden Stimme: »Sie haben
dich verdonnert. Hast du gestanden?« Fritz schwieg. »Hast du Dummheiten
gemacht?« fragte der Vater drohend. »Ich kann nichts dafür, ich wollte
es wohl totschlagen«, sagte Fritz leise und sanft. Jetzt erst schien
der Vater zu verstehen, er brach in ein furchtbares, weithin
dröhnendes, höhnisches Gelächter aus, sein roter Bart sträubte sich auf
in dem großen, fahlen Gesicht, seine kleinen Augen versanken, die Adern
an seinem halb entblößten, fetten, faltigen Hals sprangen dick auf, aus
seinem weit geöffneten Rachen brüllte er: »Du Ochse! Kein Stier! Du
bist ein Ochse!« Unter Lachen hob er seine schwere Rechte hoch, ballte
sie zur Faust, plötzlich zischte er nur noch und hieb nieder in das
Gesicht des Jungen, der wimmernd aufschrie. Der Aufseher riß den Vater
mit großer Gewalt zurück, ehe der zum zweiten Schlag ausholte, doch
gelang es dem Vater noch, in weitem Bogen auf das blutüberströmte
Gesicht des Sohnes zurückzuspeien. Dann schob er sich mit seinen
schweren, jetzt aber zitternden Schritten, mit keuchendem Atem langsam
zum Saale hinaus. Vater und Sohn sahen sich nie wieder.
Nach zehn Tagen wurde Fritz wieder in seine Zelle gebracht, wo
er endgültig seine fünfzehnjährige Freiheitsstrafe antrat. Nie erhielt
er Besuche oder Briefe, nur zu den Festen des Jahres kamen regelmäßig
Pakete mit Geschenken von seinem Herrn Christian B., wie sie
für das Gefängnis erlaubt waren. Aber es fand sich weder ein Wort noch
ein Gruß dabei.
Vier Wochen nach seiner Krankheit hatte sein Körper begonnen
sich umzubilden zu jener Art, die lange jung und unveränderlich blieb,
da Leidenschaft sie nicht zerrüttete. Seine hellen Augen schwammen nun
in feuchtem Glanz, ein etwas trauriger Friede sprach aus ihnen, seine
Wangen und sein Kinn füllten sich rund, rosig, wie mattes Porzellan
färbte sich seine Haut, sein weißer Hals ward voll wie der eines
Mädchens, auch seine Hände polsterten sich mit Fleisch, das die tiefen
Schnittwunden ausglättete. Er war ein stiller, sanfter Gefangener,
arbeitete und hielt Ordnung an sich und der Zelle, er sang oft,
schöner, sanfter als je, nie mehr zu laut, er pfiff nie mehr, und der
Wärter brauchte ihm nichts mehr zu verbieten. Während des Sommers genoß
er auch mit mehr und mehr sichtbarem Vergnügen die Spaziergänge im
Hofe, begann auch mit den Gefangenen zu sprechen, und als der Winter
kam, richtete er mit Hilfe des Wärters und des
Weitere Kostenlose Bücher