Das verlorene Kind
Früchte, im Winter aber ständig eine Reihe duftender
Äpfel hin, die ebenso stillschweigend angenommen und verzehrt wurden.
Außer den ehrfürchtig gedämpften Gesprächen der beiden Frauen bei
diesen Beschäftigungen erklang zwischen den Wänden dieses Zimmers kaum
ein Wort. Denn aus der geschlagenen Brust Christians stieg kaum noch
ein Seufzer. Er war völlig verstummt. Zuweilen, da er schreibend an
seinem Pult saß, glitt sein schwerer Blick zur Seite, auf die Stelle,
wo das Buch »Die Heilige Schrift« stand. Doch er griff nie nach ihm,
auch zur Kirche ging er nie mehr. Denn wozu sollte er Gottes Wort noch
hören, durch sein Ohr vernehmen, wenn er Gottes Wille mit so gewaltiger
Schrift in seiner vom Unglück rein gebrannten Seele trug? Er glaubte
noch. Er fürchtete nicht, hoffte nicht, liebte und haßte nicht, aber er
glaubte an Gott, obwohl er ausgestoßen war aus seinem Erbarmen, aus
seiner Gnade, ja aus seiner Gerechtigkeit; und er glaubte an den Tod,
noch immer, an das dunkle Tor, hinter dem sich ihm der Glanz, die
Erleuchtung, das Angesicht Gottes enthüllen sollte.
Er hatte sich losgelöst von jeglicher Erinnerung und hatte
jeden Trost von sich gewiesen. Er hatte seine beiden Söhne, die gut und
schön herangewachsen waren und wohl die Freude eines Vaters hätten sein
können, von sich getan. Als der ältere dreiundzwanzig, der jüngere
einundzwanzig Jahre alt war, hatte er sie auf das Schiff gebracht, das
sie nach Amerika, zu jenem harten, aber freien Leben auf einer
kalifornischen Farm brachte, welches er für sie bestimmt hatte. Es war
eine gute, mit Sorgfalt und durch sichere Empfehlungen ausgewählte
Stelle, von der die Kinder dann auch regelmäßig zufriedene und freudige
Briefe schrieben. In den ersten Jahren sprachen sie noch von Heimweh,
besonders in den Zeiten, in die die Feste der Heimat fielen. Dann aber
begannen sich mehr und mehr die Worte der fremden Sprache in ihre
einfache Redeweise einzuflechten, bis zuletzt die Sprache ihrer Heimat
sich ihnen nur noch schwer und fremd zu formen schien. Sie hatten sich
in Charakter und Wesen völlig gleich entwickelt und hingen einander
sehr an.
Bis zur Verheiratung des jüngeren Sohnes hatte der Vater noch
für sie gearbeitet, war auf Gewinn für sie bedacht gewesen. Er hatte
jedem bis zu diesem Zeitpunkt ein Vermögen geschaffen und es ihnen zum
Teil ausgezahlt. Die Kinder legten es zum Erwerb einer eigenen Farm an,
die sie zusammen bebauten. Der Vater verringerte von da ab seinen
Viehstand bis auf das nötigste, das jetzt in dem Stalle war, gab auch
einige Äcker ab, und seit den letzten zwei Jahren trug das, was blieb,
nach seinem Willen Arbeit, Nahrung und den Notpfennig für Krankheit und
Alter für ihn, die Söhne und die Seinen, die er um sich geschart hatte.
Christian B. hatte vor den vielen Jahren in Treuen endlich
sein totes Kind aus den Händen der Gerichtsbehörden empfangen und in
einem kleinen Sarg, den der Tischler Andres mit der gleichen Liebe und
Kunstfertigkeit gebaut hatte wie einst die Truhen für die ausreisenden
Söhne, in dem bereitgehaltenen, kleinen Grab neben dem Hügel der Mutter
versenkt. Es war still und heimlich geschehen, obgleich die ganze
Umgebung auf dieses Begräbnis gewartet hatte. Der Vater trug selbst den
kleinen Sarg, kniete am offenen Grabe nieder, beugte sich tief hinab
und stellte ihn selbst auf die Erde auf, wobei von den Wänden der
kleinen Grube feuchte Krumen Erde auf sein gebleichtes Haupt
bröckelten. Er war allein mit dem Pfarrer, der, selbst zu Tränen
erschüttert, für sie beide nur die Worte sprach: »Ich segne deine armen
irdischen Reste, die zu Staub wurden, wie der Herr es gebot, du aber,
sündenlose Seele, umschwebe uns und gib Trost und Frieden im Namen des
mächtigen Gottes denen, die in tiefer Trauer um dich weinen.« Der
kleine Hügel wurde schnell aufgeschüttet, und Christian bestimmte als
Schmuck ein gleiches einfaches Holzkreuz, wie er es einst auf jenem
Kindergrab im fernen Lande dem Ebenbilde seines Kindes errichtet hatte.
Einsam und still war er heimgekehrt.
Er hatte dann nur noch gearbeitet, schwer gekämpft. Er hatte
damals durch Mißernte und Viehschäden seine Einnahmen verloren und war
Bardarlehen und Pacht schuldig. Er mußte Pferde und Wagen verkaufen,
mußte die schöne, gepflegte Herde als Schlachtvieh verschleudern, um
Zinsen und Pacht zu begleichen. Aus dem Holz, das er gefällt hatte,
soweit es ihm zustand,
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