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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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sehen Sie,« fuhr nun der Direktor wieder fort, »meist
ist es so, daß man wünscht, gerade wenn man, wie ich, sich ernsthaft
für die Gefangenen interessiert, jeder, der hierher kommt, käme nie
mehr heraus, wenn er eben schon einmal hergekommen ist. Er hat im
Grunde genommen keinen anderen Platz in der Welt mehr, als diesen. Das
Gefängnis bietet unbedingt eine Möglichkeit für den Verbrecher, sich zu
bessern, denn er muß hier ja erlernen, seine Triebe zu beherrschen,
sich mit Zucht und Gewalt zur Besinnung zu bringen. Und selten ist
selbst ein verbrecherischer Mensch so sehr vom Schicksal geschlagen,
als daß er nicht auch wenigstens einige gute Keime in sich trüge, und
sie zu wecken, aufzurufen und dauernd wach zu halten gegen die bösen,
ist vielleicht der tiefere Sinn der Gefängnisstrafen. Ich jedenfalls
möchte das Gefangenhalten verbrecherischer Menschen wohl als notwendig,
aber hauptsächlich deshalb als notwendig ansehen, daß man sie gefangen
hält vor sich selbst, vor ihren furchtbaren Taten. Aber gerade, wenn
dieser Weg einer Besserung beschritten wurde und seine guten Anlagen
unter Sorgfalt und Strenge sich oft sogar so weit entwickelt haben, daß
sie die schlechten überwiegen, dann kommt der Verbrecher wieder hinaus
in die Welt, und da wird er nicht mehr geschont und dauernd zu sich
selber gebracht und, als Verbrecher und Sträfling wiedererkannt, doch
nicht als solcher behandelt, nämlich in dem Sinne als solcher
behandelt, indem man, das Böse ruhig vorausgesetzt, nur an das Gute und
Menschliche in ihm appelliert, sondern da werden durch Verachtung,
Furcht, Vorsicht, Mißtrauen einerseits und neue Verlockungen,
Einsamkeit und Not andererseits seine schlechten Instinkte geradezu
wieder herausgefordert. Wohl wird mit der Zeit die menschliche
Gesellschaft sich mit dieser Frage ernstlich beschäftigen und sie auch
lösen müssen, aber bis jetzt können auch wir da gar nichts tun, und
darum muß ich Ihr geradezu edles Vorgehen in höchstem Maße anerkennen.
Meine Gefangenen sind für mich wie meine Kinder. Über ihre Tat sehe ich
hinweg, aber ihre Führung und Entwicklung im Gefängnis verfolge ich
ganz genau. Der Sträfling Fritz Schütt ist ein durchaus gutartiger
Gefangener, hat laut Akten in der Zeit vor meinem Dienstantritt und
während der bereits sechsjährigen Dauer meiner Tätigkeit nie Anlaß zur
Klage, sondern nur zu Lob gegeben. Zwar war er zu einem Geständnis
nicht zu bringen, doch scheint er sich mit seiner Seele, in der sicher
nicht alles so war, wie es sein sollte, selbst ins reine gebracht zu
haben, dafür zeugt mir auch der merkwürdige Erkrankungsfall im ersten
Jahre der Gefangenschaft, den ich Ihnen nicht weiter erklären muß, der
mich aber bestärkt, Ihren schönen Vorsatz als edel und christlich
einerseits, aber auch als zumindest ungefährlich andererseits zu
erklären.« Er hielt seine Hand nochmals zum Gruße hin, doch
Christian B., anscheinend sie nicht bemerkend, nahm sie nicht,
neigte nur zweimal, einmal als Zustimmung, einmal als Gruß, sein Haupt
und ging.
    Er kam am Abend noch nach Hause zurück. Es war nicht mehr die
frühere Heimat, Treuen, die Heimat des Glückes und des Niederganges. Es
war eine Heimat des Alters, eine Heimat für das Leben im Schatten des
vergangenen Lebens, das glühend, prangend, durchwogt von Ereignissen,
die unbegreiflich noch in der Erinnerung waren, zurücklag. Dieses Leben
teilten die drei Menschen: Christian B., seine Schwester
Klara, jetzt siebenundsechzig Jahre alt, und Emma, die Magd, die Mutter
des Mörders, die Jüngste unter ihnen, einundfünfzig Jahre alt. Die
Heimat war ein kleines Bauerngut, eine Tagereise nur von Treuen
entfernt, aber es war eine neue Welt.
    Das Gut lag eine halbe Stunde von dem letzten Haus des Dorfes
Nieder-Sch. entfernt, zu dem es gehörte. Die Hälfte seiner
langgestreckten Äcker grenzte an die Landstraße. Das Haus, zweistöckig,
neu und sauber aus gelben, glatten Backsteinen errichtet, mit einem
Ziegeldach bedeckt, mit blanken, weithinspiegelnden Fenstern in
weißgestrichenen Rahmen versehen, lag am Fuße eines kleinen, sanft und
breit zu mäßiger Höhe ansteigenden Wiesenhügels, der nach allen Seiten
hin gleichmäßig abfiel und so die gewaltige Ebene der Felder und Wiesen
unterbrach. Auf dem Hügel standen, in regelmäßigen, nach oben sich
verengenden Ringen um seine Abhänge gezogen, Obstbäume aller Arten, und
oben, auf der kleinen

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