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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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hatte.
Er dachte an den Mörder im Gefängnis, an Fritz, der ein Kind gewesen
war, wie die seinen, aufgewachsen unter dem Schutze seines Hauses zu
solchem furchtbaren Ende. Hätte er nicht auch der Vater des Mörders
sein können, statt der Erzeuger des armen, unschuldigen Opfers? Nicht
bei ihm hatte diese Entscheidung gelegen und furchtbar war beides. Und
es erwachte in ihm gerade in jener Stunde die ungeheure Regung, die ihn
trieb, nach der Stadt zu fahren, wo sich das Gefängnis befand, und dort
jene Erklärung abzugeben, daß man den Sträfling bei seiner Entlassung
zu ihm schicken möge. Den Seinen hatte er von diesem Entschluß nichts
mitgeteilt, und ein Jahr war nach dieser Reise verflossen, still und
schnell, wie die Jahre alle für diese Menschen vergingen. Da kam, kurz
vor dem Weihnachtsfest, ein zweiter, wichtiger Brief an den Herrn,
großen Umfanges und mit mächtigen Siegeln und Stempeln versehen. Es war
ein Schreiben der Gefängnisdirektion, die mitteilte, daß dem Fritz
Schütt auf dem Gnadenwege in Anbetracht seiner musterhaften Führung das
letzte halbe Jahr seiner Strafe erlassen würde. In Fürsorge für die
entlassenen Sträflinge fragte der Direktor an, ob es trotz des
veränderten Termines bei dem hochherzigen Angebot von
Christian B. bliebe, den Sträfling bei sich aufzunehmen.
    Wegen der Kälte, die in seinem nie geheizten Zimmer im Winter
herrschte, schrieb Christian am Abend in der Küche, mitten unter den
anderen seine Antwort, daß er bitte, den Fritz Schütt, wie verabredet,
zu ihm zu schicken und einige Zeit vorher den genauen Tag der
Entlassung mitzuteilen. Während er schrieb, schnell und gewandt, saßen
alle in achtungsvollem Schweigen um ihn herum. Als er fertig war und
dies bemerkte, sah er sie nacheinander an, und plötzlich geschah es,
daß er lächelte, und ohne Worte lächelten die Frauen zurück, erstaunt
alle über diese grundlose Heiterkeit, die wie ein Zauber aus ihren
zerrütteten Herzen in ihre alten, leidvollen Gesichter stieg. Christian
stand auf, stieg in seine hohen Lederstiefel und trug den Brief selbst
noch ins Dorf zu dem Boten, der ihn am nächsten Tag zur Poststation
bringen sollte. Es schneite in sanften, knisternden Flocken, die Erde
in weiter Ebene leuchtete kristallhell, beschattet von dem erddunklen
Himmel ohne Licht. Christian schritt durch die Nacht, die einmal voll
tiefster Bedeutung für sein Leben gewesen war. Jetzt war auch dies
erstorben in ihm.
    Dann kam das Weihnachtsfest, das wie immer gefeiert wurde um
der jungen Knechte und der Magd willen. Denn Christian sorgte, daß
jeder das Seine erhielt, die noch jung Lebenden ihre Arbeit, ihre
Nahrung, ihren Lohn und ihre Freuden. So hatte Klara einen
Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt, Geschenke besorgt, die
Kerzen entzündet, das Evangelium vorgelesen und das Weihnachtslied
angestimmt, sie war selbst ergriffen und gerührt. Sie schmückte auch
das Bild ihres Lieblings, der kleinen Anna, entzündete ihm eine Kerze
aus zart rosafarbenem Wachs, die mit goldenen Papiersternen beklebt
war, und in deren sanftem Schein sie um das tote Kind weinte. Doch von
ihm sprechen durfte sie nicht, auch an diesem Abend nicht. Steinern
stand der Bruder im schwebenden Licht der Weihnachtskerzen, während
Emma in der Ecke am Herd saß, die gefalteten Hände vor das Gesicht
gepreßt. Nur vor dem nächtlichen Kirchgang, den die Frauen, der Sitte
gemäß jede ein brennendes Licht in einer gläsernen Laterne tragend,
antraten, zog er die Schwester sanft an den Schultern zu sich heran und
legte in einer innigen Bewegung seine Wange an die ihre, nahm dann die
Hand Emmas zwischen die seinen und drückte sie.
    Am nächsten Morgen, einem sanften, stillen Wintertag, an dem
nur die Knechte und die junge Magd zur Kirche gegangen waren, saßen die
beiden Frauen allein in ihrer Einträchtigkeit in der Küche und
bereiteten gemessen und ruhig, da es noch früh war, das Mittagessen
vor. Sie sprachen ab und zu ein leises Wort miteinander, als sie
plötzlich erstaunt verstummten, denn sie sahen Christian über den Hof
kommen und zu dieser ungewohnten Zeit zu ihnen in die Küche eintreten.
Er setzte sich an den Tisch und sah ihnen still eine Weile bei ihren
Beschäftigungen zu. Er lächelte, wie er an jenem Abend gelächelt hatte,
als er den Brief geschrieben hatte. Aber nur Klara sah es und lächelte
zurück, Emma kniete vor dem Herd, dessen Feuer sie anfachte. »Ja,«
sagte

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