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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Christian, »ihr seid fleißig. Das Beste für uns ist es doch nur
noch, für andere zu sorgen. Komm, Emma, setze dich mit hierher und höre
zu.« Er zog die Magd neben sich auf die Bank vor dem Tisch und ergriff
ihre Hand. Ihnen gegenüber saß Klara.
    »Hast du schon daran gedacht,« sagte der Herr zu Emma, »daß
die Strafzeit von Fritz um ist und er bald freikommt?«
    Die Frauen starrten ihn an, Klara bleich vor Entsetzen,
während die weißen Narben in Emmas Gesicht blutrot aufsprangen. Sie
wollte aufstehen, entfliehen, doch sie konnte sich nicht losreißen, der
Herr hielt sie fest mit seiner Hand, die die ihre umklammerte. Der Herr
erhob seine Stimme und sagte langsam und nachdrücklich: »Und wenn er
freikommt, muß man für ihn sorgen, und er gehört zu uns, wie das
Unglück, das uns alle betroffen hat, und es ist mein Wille, daß er
hierher kommt und hier arbeitet wie früher.«
    »Um Gottes willen!« sagte die Schwester leise, im Innersten
entsetzt.
    Emma aber schrie auf, sie jammerte gellend: »Nein, nein, Herr,
nein, nein! Nur das nicht, nur das nicht! Warum ist er nicht gestorben,
lieber Gott, warum ist er nicht gestorben!« Und sie wand wimmernd ihren
Oberkörper hin und her, festgehalten noch immer von der Hand des Herrn.
»Ich kann ihn nicht sehen, ich kann ihn nie wiedersehen. Wäre er tot!«
    »Das ist zu furchtbar, was du willst«, sagte Klara leise und
hing gebannt an des Bruders steinernem, blickverhangenem Gesicht.
    »Furchtbares ist geschehen, das ist nicht mehr furchtbar«,
sagte Christian ruhig. »Er ist dein Kind, Emma, und ich habe ihn mit
erzogen und habe ihn aufwachsen sehen. Wir sind hier einsame alte
Leute, hier kann er mitleben, er soll gut leben unter meinen Augen.«
    »Wäre er tot, wäre er tot!« jammerte die Mutter.
    »Er ist doch ein Mörder!« sagte die Schwester.
    »Das ist Gottes Sache.«
    »Christian,« sagte die Schwester beschwörend, »Christian, dein
Kind!«
    »Ich habe es tief betrauert«, sagte der Bruder.
    Alle drei schwiegen. Dann sagte die Schwester: »Ich bin bald
siebzig Jahre alt, das dachte ich nicht mehr zu erleben. Tue, wie es
dir gut scheint, Christian.«
    Emma war verstummt, kein Wort, keine Träne mehr. Tief in sich
zusammengesunken saß sie da, sie fühlte kaum, daß die Hand des Herrn
die ihre freigab. Sie erhob sich und ging wieder an die Arbeit Die
Schwester richtete den weichen, getrübten Blick durch das Fenster auf
den stillen, verschneiten Hof, dann zurück auf den Bruder, der mit
gesenkten Lidern, die rechte Hand leicht auf den Tisch aufgelegt, ruhig
dasaß. Sie beugte sich über seine Hand und küßte sie. Der Wonne, das
Gefühl ihres Herzens in ungewöhnliche Höhen zu tragen, wie die Kraft
ihrer Jugend es einst ersehnt hatte, gab sich die Alternde nun hin.
    Schwer litt unter diesem Gedanken nur Emma, die Mutter, und
sie vermochte ihn nicht zu bewältigen. In ihrer Not klammerte sie sich
an die Hoffnung, daß ihr Gebet doch noch erfüllt werden möge, daß ihr
Kind tot sei oder sterben würde, im letzten Augenblick noch, am letzten
Tage noch im Gefängnis, oder daß sie selbst tot umsinken würde, wenn er
wirklich hier in das Haus träte, wenn sie ihn, den furchtbaren Mann,
nicht mehr ihr Kind, wieder erblicken müßte. So lobte sie in Angst, in
täglicher Erwartung des Entsetzlichen. Mit Ehrfurcht und Schrecken
zugleich betrachtete sie oft das unbewegliche, verhangene Angesicht
ihres Herrn, der ihr unbegreiflich war. Als aber Monat auf Monat
verrann und nichts geschah, versank sie nach und nach in eine
erschöpfte Beruhigung.
    Ostern ging der jüngere Knecht fort, da seine Zeit abgelaufen
war. Es kam niemand an seine Statt, da, wie Christian sagte, keine
guten Leute frei seien. Die übrigen teilten sich in seine Arbeit, aber
es war schwer. »Für die Ernte muß ich wieder jemand nehmen,« sagte
Christian an einem Feierabend, als alle müde um den Tisch saßen,
»vielleicht auch schon früher, richtet jedenfalls das Knechtbett frisch
her.«
    Man sah ihn in der darauffolgenden Zeit viel auf dem großen,
geräumigen Heuboden, der über dem Stall lag, sich bewegen und
beschäftigen. Er brachte Bretter aus dem Dorf herbeigeschleppt, und man
hörte ihn hämmern. Doch da er selbst nichts sagte, fragte niemand.
Einmal aber kam Emma, einem verlaufenen Küken nachgehend, auf den Boden
über dem Stall. Sie fand ihn zur Hälfte ausgeräumt, das Heu hoch
aufeinander zurückgeschichtet und durch gespannte

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