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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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geblieben war, die Söhne in der Ferne, den
Herrn in der Nähe, der sie abgehalten hatte von ihrem
verzweiflungsvollen Sturz aus dem Fenster, und der sie täglich von
neuem wieder am Leben hielt durch die Güte, mit der er ihr bewies, daß
er sie brauche. Sie liebte Klara, ihre erste und letzte Herrin. In der
neuen Heimat lebte sie auf, wagte auch wieder, zum Grab der toten Frau
und des Kindes zu gehen, wozu sie in Treuen den Mut nicht mehr gefunden
hatte.
    Für ihren Sohn betete sie Abend für Abend. Sie schlief in dem
neuen Haus in einer hübschen Stube, die über der Küche lag, allein.
Dahin flüchtete sie, wenn Verzweiflung und Erinnerung sie
überwältigten, dort stieß sie wieder und wieder ihren glühenden Wunsch
aus, richtete sie ihre inbrünstige Bitte an Gott um den Tod ihres
Kindes. Sie hatte sich ein eigenes Gebet gebildet, sie rang die Hände,
unzählbar oft flüsterte sie: »Lieber Gott, nimm ihn weg, nimm sein
böses Leben von der Erde!« Oder sie mischte dieses furchtbare Flehen in
die Bitten des Vaterunsers, sie betete: »Und nimm Fritz von dieser Erde
und bewahre ihn vor allem Übel, denn dein ist das Reich und die
Herrlichkeit.« So hoffte sie, daß der Mörder im Gefängnis erkranken und
sterben möge. Sie wartete Jahr für Jahr auf diese Nachricht. Sie wollte
ihn dann wieder lieben, so wie sie ihn in der Erinnerung lieben konnte,
da er noch ein Kind war, sanft, fleißig und bescheiden, als aus seinem
schönen Kinderantlitz ihr Freude und Reinheit entgegengestrahlt und
alle Schmach verlöscht hatte, mit der sie ihn empfangen hatte. Das
Kopftuch tief um ihr entstelltes Gesicht gebunden, begleitete sie
abwechselnd mit der einäugigen Magd Klara zur Kirche.
    Klara war die einzige unter ihnen, die zurückdachte, die in
die Erinnerung sich verlieren konnte mit noch menschlichem Schmerz. In
ihrer Stube, die über der des Bruders lag, und die traulich mit den
schönsten Stücken ihres Hausrates ausgestattet war, stand auf dem
Nähtisch vor dem Fenster das Bild der kleinen Anna, im festlichen
Kleidchen, das Köpfchen von den zarten Locken umschwebt, mit ernsten
großen Augen und lächelndem Mund, das rechte Händchen mit dem weisend
ausgestreckten Zeigefingerchen bis zur Schulter erhoben. Klara
betrachtete es täglich, bekränzte seinen Rahmen mit Blumen oder
Tannenzweigen, die sie, da es keinen Wald in der Nähe gab, oft von dem
Kirchhof mitbrachte, auf dem sein kleines Grab lag. Obwohl sie von
allen dreien die Älteste war, schien sie doch die Jüngste zu sein. Ihr
weizengelbes, volles Haar war nur an den Schläfen leicht ergraut, ihre
strengen Züge waren milder geworden, die vielen Tränen hatten ihren
hart blickenden Augen einen traurigen, weichen Glanz verliehen, ihr
bitter gefalteter Mund war gelöst. Spät noch hatte sie sich in das
Glück gerettet, des geliebten Bruders Leben und Unglück zu teilen und
endlich die ungenützten Kräfte ihres Herzens verschwenderisch zu
vergeben.
    Alle mußten trotz des zunehmenden Alters schwer arbeiten.
Christian schaffte gleich einem Knecht mit auf den Feldern, Klara
sorgte für die Mahlzeiten, Emma für die Ordnung im Haus und in den
Ställen. Die junge Magd ging in allem zur Hand und brachte zweimal in
der Woche in einem großen Rückenkorb die Produkte zum Verkauf in den
nahegelegenen Marktflecken. Sie arbeiteten alle einander in die Hand,
sie lebten einer dem anderen zum Gefallen, sie sprachen zueinander ohne
Worte. Nie redeten sie von dem Vergangenen, nicht, wenn sie abends
beisammensaßen auf dem sanften Hügel und ruhten, nie am Tisch, bei dem
Essen, wo die jungen Knechte scherzten und stritten, wo alle nur vom
Wetter sprachen oder von ihrer Arbeit.
    Dann erhielt Christian die Nachricht aus Amerika, daß ein
Enkel ihm geboren war, ein Mädchen, das auf den Namen Anna getauft sei.
Er saß in seiner kahlen Stube vor dem geöffneten Schreibsekretär, in
dessen Schubfach er den Brief, als er ihn gelesen hatte, verschloß. Er
empfand keine Freude. Er wußte plötzlich, warum in seiner Jugend ihn
Finsternis erschreckt hatte, wenn die Freuden der Wollust, das Glück
des Zeugens in ihm sich regen wollte. Es hatte ihn warnen, halten
wollen. Jetzt begriff er die Bedeutung jedes einzelnen menschlichen
Daseins, das einmal erweckt, im Guten ebenso wie im Bösen verwurzelt
sein konnte. Er dachte plötzlich klar und ohne innere Erregung, daß
dreizehn Jahre vergangen waren, seit man sein Kind tot gefunden

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