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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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hatte er Möbel und Gegenstände zum Verkauf
zimmern lassen. Dann kam eine gute Heuernte, die er verkaufen konnte,
da er selbst keine Herde mehr hatte, und drei aufeinanderfolgende gute
Durchschnittsernten ermöglichten es ihm, seine Schulden zu decken und
eine Ersparnis von tausend Talern wieder zu erübrigen.
    Am Ende dieser drei Jahre war seine Pacht abgelaufen, und er
erneuerte sie nicht wieder. Er schied von Treuen, wie er gekommen war,
nicht reicher, nicht ärmer, einsam, ohne Weib und Kind, obwohl er
gearbeitet und geerntet, geliebt und gezeugt hatte.
    Auch das Schicksal seiner Schwester Klara hatte sich indessen
erfüllt. In einer Herbstnacht des letzten Jahres in Treuen kam eine
Botschaft von G., die Christian an das Sterbebett des Barons rief. Er
fand den Schwager besinnungslos, Gesicht und Hände blau verdunkelt, in
einem Todeskampf liegen, der neun Stunden währte, und in dem der
riesige Körper seine starken und trägen Kräfte bis aufs äußerste zu
einem vergeblichen Ringen anspannte. Ohne Wort und Tränen saß Klara bei
dem Sterbenden, ihre einzige Bewegung war ein schnelles Zufahren ihrer
rechten Hand auf die Augenlider des Gatten, als es einmal so schien,
daß sie sich wieder öffnen wollten. Denn sie war Witwe schon seit
vielen Jahren, und der sterbende Gatte war längst begraben in ihrem
Herzen. Sie hatte sich geweigert, die Verwandten des Mannes kommen zu
lassen, erst als alles still war, keine gierig erpreßten Atemzüge die
Brust des Toten mehr bewegten, stand sie auf, winkte ihrem Bruder, ihr
zu folgen, und unternahm mit ihm die Vorbereitungen für das Begräbnis
und die Benachrichtigung der Verwandten. Trauerkleider trug sie schon
seit dem Tode Marthas. Lange schon, noch vor dem Auffinden der kleinen
Leiche in Treuen, wußte sie, daß Böses auch in ihr war, und sie hatte
danach gehandelt. Ihren Mann hatte sie in sich getötet, als er noch
lebte, sie hatte seine Krankheit berechnet, sein Sterben erwartet. Sie
liebte den Bruder, sie trauerte um das unglückliche Kind. Der Baron
hatte nie auf sie geachtet, sie hatten nie miteinander gesprochen, aber
er hatte sie verstanden, ihre geheime, aber tödliche Verachtung gegen
ihn, den Gatten, aus dessen Umarmungen sie immer wieder zurückgekehrt
war, enttäuscht, beschämt, vernichtet, ohne das fanatisch ersehnte
mütterliche Glück. Und wie er unter dieser Verachtung gelitten hatte,
bezeugte die erschütternde Bosheit seines Testamentes, abgefaßt ein
Jahr vor seinem Tode, worin er sein gesamtes Hab und Gut seinen etwa
noch zu erhoffenden Kindern vermachte und dann noch hinzufügte, sollten
jedoch Gott und seine Ehefrau Klara geb. B. ihm diese
versagen, bestimme er als Erben die Kinder seines jüngeren Vetters,
unter der Bedingung, daß die eingebrachte Mitgift der Frau, rückwirkend
mit Zinsen zu zehn Prozent, sowie das gesamte Mobiliar des Wohnhauses
ihr zukomme, wofür er sie bitte, alle Abbildungen seiner selbst sowie
seinen Hochzeitsrock zu verbrennen. Die sonderbare Abfassung des
Testamentes erschreckte die Erben, die die Anspielungen nicht
verstanden. Das Gericht stellte der Witwe anheim, das Testament
anzufechten. Doch Klara erklärte sich damit vollkommen einverstanden,
wies auch das Angebot eines Altenteiles von Seiten der Erben sowie die
ungebührlich hohe Zinsvergütung ihrer kleinen Mitgift zurück und
verließ nur mit dem ihr persönlich gehörenden, notwendigsten Hausrat
das Gut, um nach Treuen zu ihrem Bruder zu ziehen. Auch sie verließ
diese Heimat, wie sie gekommen war, nicht ärmer und nicht reicher und
einsam; Arbeit, Kraft und Hoffnung ihrer Jugend hatte sie fruchtlos
dort verschwendet.
    Mit der Summe, die sich zu gleichen Teilen aus der Ersparnis
des Bruders und der Mitgift der Schwester ergab, erwarben sich beide
dann jenes kleine Bauerngut, das ihre dritte Heimat auf Erden wurde.
Mit sich nahmen sie Emma, die gute, treue Magd, die auf ihrem
Muttergesicht die vielen Zeichen des Grauens und der Schande für ihren
Sohn trug, dessen Gesicht einst so schön und engelhaft erschienen war.
Die Röte ihrer Narben war mit den Jahren geschwunden, und inmitten der
langsam in Kummer und Alter welkenden Haut zogen sie sich nun blaß,
zart gerunzelt, wie Gräben, über Stirn und Wangen, von den Schläfen bis
dicht an die Augen, über Nase und Mund. Auch der früher so sanfte Blick
ihrer Augen war zerstört durch Verzweiflung. Doch nicht erloschen war
ihr Herz; es liebte, was ihm

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