Das verlorene Kind
liegen. Er stieß ihn an und weckte ihn. Fritz
schlug seine großen, schlafesklaren Augen auf, sprang auf die Beine,
ging taumelnd ein paar Schritte, versuchte sich zu besinnen, denn er
wußte nicht mehr, wie er hierher und zu dem tiefen Schlaf gekommen war.
In kindlicher, schamhafter Verwirrung lachte er mit, als Karl ihn
neckte, daß er heute so fleißig schlafe. Fritz suchte ihm eine kleine,
leichte Axt aus, die Zweige zu behauen, und plötzlich sah er, daß die
Stelle, wo der Grabspaten mit langem Stiel hängen mußte, leer war.
Suchend lief er um die Scheune herum und erblickte die Hacke auch, die
noch an der offenen Scheunentür lehnte. Er ergriff sie schnell, um sie
an ihren alten Platz zu bringen. In demselben Augenblick bog Emma,
seine Mutter, vom Schafstall kommend, um die linke Ecke der Scheune und
stand vor ihm. Sofort fragte sie: »Was macht die Hacke hier? Gehört die
in die Scheune?«
Fritz sah die Mutter an, dann blickte er auf die Hacke nieder,
schaukelte sie leise an ihrem langen Stiel in seiner Hand hin und her.
»Ich habe sie wohl ein bißchen gebraucht!« sagte er.
»Ach was, hänge sie schleunigst an ihren Ort, wo sie
hingehört! Was ist das für eine Ordnung?« schalt die Mutter streng und
ging weiter.
Fritz eilte und hing die Hacke an ihren Platz. Dann ging er in
den Hof zu den Knaben, die um den Scheiterhaufen bemüht waren. Er
fühlte sich leicht, weich und froh, es zog ihn zu den Menschen, er
gesellte sich seit langen Jahren zum erstenmal wieder zu den Brüdern,
half mit jungenhafter Freude und Heiterkeit, den Scheiterhaufen hoch in
einem mächtigen, sauberen Quadrat aufzubauen.
Rings um den Hof erhob sich noch einmal ein großer Tumult.
Alle Herden wurden eingetrieben, die Pferde getränkt und gestriegelt.
In einer Stunde sollte alles Vieh versorgt, die Ställe geschlossen, die
Gerätschaften verwahrt, das Feuer im Herd verlöscht sein. Die große,
weißgescheuerte Tafel stand schon vor der Tür, mit Bänken und Stühlen
umgeben, mit den irdenen Eßschüsseln und den kleinen Krügen für Wein
und Bier besetzt. Die jungen und flinken Knechte und Mägde drängten
sich schon um den schönen steinernen Trog des Brunnens und wuschen sich
Arme, Hände und Füße, während die älteren bedächtig nachkamen, die
Ärmel der Hemden hochschoben, in Eimern sich Wasser auffingen und etwas
abseits von den andern sich wuschen. Zur rechten Zeit ertönte die
Glocke zum Essen, alle strömten zu der großen, verheißungsvoll
aufgedeckten Tafel.
Bis jetzt war das Kind von niemand vermißt worden. Die Mutter
glaubte es bei den Hirtinnen am Teich, die Hirtinnen hatten längst
vergessen, daß es von ihnen weg zum Hause gegangen.
Der Abend kam zögernd. Am Rande des Himmels hing noch immer
die Sonne am Ende ihrer weiten, strahlend gezogenen Bahn, durchgoldete
mit ihrem letzten und heute scheinbar unerschöpflichen Licht die in
milde Wärme sich verkühlende, sanft sich bewegende Luft. Die
berauschende Schönheit, mit der der Tag begonnen, verklärte ihn
verschwenderisch bis zum langsamen Sinken in die Nacht.
In wohligem Verlangen nach Ruhe und Nahrung aufatmend, setzten
sich die Menschen zu Tisch. Emma kam aus dem Haus, und mit Hilfe einer
Magd stellte sie einen Holzbock auf, auf den mit einem Schwung das
Fäßchen mit Beerenwein gehoben wurde. Alle lachten. Dann ging sie und
kam wieder mit der riesigen Schüssel dampfender, fleischduftender Suppe
und stellte sie auf den Tisch nieder. Alle warteten auf den Herrn und
die Frau. Der Herr kam zuerst, aus dem Wohnzimmer tretend, die Frau
folgte ihm mit vor Eile gerötetem Gesicht, mit glücklich lächelndem
Mund und die weit offenen dunklen Augen strahlend auf ihn gerichtet.
Sie strich sich mit beiden Händen den dunkel glänzenden Scheitel glatt
und ließ sich am Tische nieder. Sie füllte die Teller, die Emma ihr
zureichte und gefüllt wieder verteilte. Alle falteten die Hände und
erwarteten jetzt die zarte Stimme des Kindes, das in den letzten Wochen
immer das Tischgebet gesprochen hatte. Die Stille, die jetzt au Stelle
der gewohnten, rührenden Bitte um Segen der Mahlzeit eintrat, war
furchtbar, verbreitete plötzlich ein Entsetzen, das noch niemand sich
erklären konnte. Die Hände starr ineinandergefaltet, die Köpfe gesenkt,
verharrten sie alle stumm.
Der Mann sprach zuerst. Er hob das Haupt und fragte: »Wo ist
Anna?«
Die Frau erschrak, schuldbewußt wagte sie nicht, sich zu
erheben, und
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