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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Müdigkeit, Schrecken
und leerer, noch nicht einmal begriffener Verzweiflung. Überall im Hofe
verstreut hockten die trostlosen Gestalten, die Hände schlaff in den
Schoß gefallen, die Augen auf den Boden gerichtet oder geschlossen ohne
Schlaf.
    Nur zwei Menschen schliefen. Fritz, von der Hitze und der
blendenden Helligkeit des Feuers weggetrieben, war in weicher
Müdigkeit, in traumhafter Sehnsucht nach Schlaf in seine Kammer
geschlichen und dort in tiefen Schlummer gesunken.
    Über dem Bettchen des Kindes hatte die Mutter sich in
hoffnungsvollen Traum geweint. Sie träumte, sie stehe wieder als junges
Mädchen im Laden in der kleinen Stadt, es sei Abend, die Lampe brenne,
die Türe ginge auf, Christian trete ein und reiche ihr ein mächtiges
Bündel großblütiger Blumen, und als sie es in die Hand nahm, entsprang
jeder Blüte das Kind Anna, und die vielen kleinen Gestalten drängten
sich um sie, der warme Hauch der Kinderkörper stieg von ihren Füßen
über den Leib bis zu ihrem Herzen empor und überflutete sie bis in den
Schlaf mit einem glücklichen Gefühl. Der Mann aber war versunken.
    Unten stand Christian, der Vater, frei in der offenen Tür des
Hauses. Müdigkeit, schwer in seinen Gliedern lastend, drückte ihn
nieder, doch der Schmerz des Herzens hielt ihn wieder aufrecht.
Erbarmungslos stieg es ihm jetzt aus der versteinten Brust empor, daß
sein Kind tot sei, daß er seinen Leichnam suche, daß er seinen Leichnam
bergen müsse. Kein Grund für diesen Gedanken, keine Erklärung, und doch
keine Hoffnung, und doch keine Träne. Er hatte nicht beten können, die
gefalteten Hände hatte er gelöst, in der schwersten Stunde war Gott ihm
entwichen, jetzt fühlte er klar den unerbittlichen, den tödlichen
Schlag in seiner Seele. Keine menschliche Verzweiflung war ihm gegeben,
er brach nicht zusammen. Todeskräfte stiegen aus seiner bis hierher in
gutem Glück lebenden, von reinen Wünschen und Gedanken bewegten, nun
von bösem Unglück jäh überfallenen Seele hervor. Frei, ohne Stütze
stand er weiter, im Innern gehalten von furchtbarer Kraft
    In der völligen Dunkelheit, in der völligen Stille, die jetzt
über allem lagerte, schien es, als schwebe die kleine, so gewaltsam
abgeschiedene Seele des Kindes in lebensgierigen Kreisen noch nahe den
Menschen, noch nahe der lebendig atmenden Natur. Vor den müden, stumpf
ruhenden Seelen der Knechte und Mägde erstand das Bild des Kindes. Mit
ihren halb in Schlaf versunkenen Sinnen fühlten sie seinen Atem in der
Luft, sie glaubten die Gräser des Weges sanft sich niederbeugen zu
sehen unter dem zarten Gewicht seiner kleinen Schritte, Türen öffnete
es langsam, auf die Zehenspitzen gestreckt, mühsam mit dem Druck der
kleinen Händchen die schweren Klinken niederdrückend, es flüsterte nahe
um sie, sein schmeichelndes, zärtliches, weiches Lachen schmiegte sich
mit der lau bewegten Sommerluft in ihre Ohren. Es umwebte die
Ahnungslosen in den kurzen Stunden ihrer traurigen Ruhe mit den
letzten, geheimnisvollen Schwingungen seines verwehenden Lebens.
    Die zarte Dämmerung des Morgens, wieder golden und schön, kam
schnell. Der Herr, frei und unbeweglich stehend im Tor des Hauses,
erhob die Stimme in dem noch lautlosen Schweigen des Morgens.
    Nun sprangen alle auf, reckten sich, gingen zum Brunnen und
weckten die Gesichter und Hände mit kühlem Wasser. Sie halfen beim
Anzünden des Herdes, bald war der Kaffee fertig, schnell tranken alle,
froh, sich regen und Nacht und lähmendes Entsetzen abschütteln zu
können.
    Nun sammelte der Herr die Leute um sich. Er stellte sie auf
nach Plan und Ordnung. In der süßesten Morgenröte, in der von Frische
und goldenem Licht erfüllten Luft, unter dem von überallher froh
erwachenden Gesang der Vögel begann das Suchen nach dem Kinde von neuem.
    Ein Teil der Leute durchwanderte unter der Leitung von Blank,
dem Wirtschafter, den ganzen, mit Winterkorn besäten Schlag sechs und
sieben. Sie gingen in Reihen, je zu fünfen, hielten sich mit
ausgestreckten Armen an den Händen und folgten einander in Abständen
von zehn Schritt. Mit den schweren Schuhen traten sie das schön, dicht
und ebenmäßig stehende, ihnen bis zu den Schultern reichende Korn
nieder. Mit verstörtem Schrei und Flug schwangen sich die Lerchen auf,
die Wachteln flatterten davon, hier und da floh ein Maulwurf unter
seinen Hügel. Die Männer gingen still, mit gesenkten Köpfen.
    Andere durchsuchten

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