Das verlorene Kind
Haupt. Im hochgeschobenen Blick
unter der zur Erde niedergeneigten Stirn sah er die kleine Anna mit den
Entenhirtinnen im spielenden Lauf sich um ihn bewegen. Im Rufen, Lachen
und hastigen Atem des Spieles hielt sie ihren kleinen Mund weit
geöffnet. Die zarte, rosige Höhle ihres Mundes schimmerte feucht oft
nah vor seinen Augen. Er richtete sich auf. Schwer rann sein Blut zum
Herzen. Die kleine Anna stand dicht vor ihm. Tief gerötet das
Gesichtchen, feuchten Glanz in dem strahlenden Blick der Augen,
feuchten Hauch auf den wie Blütenblätter zarten Lippen und springend in
hastigem Schlagen die Adern an ihrem zarten Hals. In der kleinen Hand
hielt sie noch ein Stück ihres Kuchens, den sie mit den Hirtinnen
geteilt hatte. Sie erhob den Blick zu Fritz, der stumm auf sie
niedersah. Sie reichte ihm das Stück Kuchen hin und fragte: »Willst du
auch?«
Er schüttelte stumm den Kopf, beugte sich nieder und lud sich
eine Bürde von Weidenruten auf. Das Kind sah ihm mit ernsten Blicken
zu. »Ich weiß ein Vogelnest mit Jungen«, sagte er leise vor sich hin.
Das Kind jubelte. »Wo? Wo?« fragte es.
Er antwortete nicht und wandte sich langsam zum Gehen. Das
Kind begann ihm zu folgen. »Wir wollen den Vöglein den Kuchen geben«,
sagte es.
»Ich weiß keine!« sagte Fritz und ging langsam den Weg zur
Scheune. Schwer und fest setzte er die Schritte auf, die Enden der
wippenden Ruten auf seinem Rücken peitschten seine Beine. Er fühlte von
neuem Durst, sein Mund stand offen, wie eine langsam steigende Flut
überzog dunkle Röte sein Gesicht.
»Zeig mir doch das Nest!« sagte das Kind noch einmal, dann
schlich es leise, mit kleinen, schwebenden Schritten hinter ihm her.
Als sie sich dem Hofe näherten, begann Fritz plötzlich schnell
zu laufen. Obwohl es an der Zeit war, war der Hof noch leer, das Vieh
zum Melken noch nicht eingetrieben, die Frau in der Küche, der Herr im
Haus. Fritz ging zur Seitenwand der Scheune, zu der Stelle, über der
der Dachdecker arbeitete, und ließ seine Last niederfallen. Als er sich
wieder aufrichtete, stand die kleine Anna vor ihm und lächelte ihn an.
»Bitte, das Vogelnest!« sagte sie schmeichelnd. Er ging an ihr
vorbei, dem Eingang der Scheune zu. Nacht, Stille, heiße, weiche Ruhe
und Geborgensein lockte ihn im tiefen dunklen Raume. Er trat ein und
ging bis zur Mitte, dort stand er still, in Kraft und Schwere sein
Körper hart gespannt.
Unhörbar war ihm das Kind gefolgt. Unter seinen leichten
Schritten knisterte kaum das Stroh des Bodens. Plötzlich rief es dicht
hinter ihm: »Bitte, das Nest!« Rührend durchschwebte die lebenerfüllte,
süß schmeichelnde Kinderstimme den dunklen, von dumpfer Glut
durchbrüteten Raum, und furchtbar erstickte den lebendigen Laut wieder
die tote Stille, die von verdorrender Verwesung erfüllte Luft. Wie von
weither, doch nicht aus freier Ferne, sondern wie durch Grabeswände
hindurch, kamen in dem wieder herrschenden Schweigen die raschelnden
Geräusche aus den Ecken, wo Ratten nagten, und von hoch oben raunte der
leise menschliche Laut des arbeitenden Dachdeckers.
Das Kind erschrak vor seiner eigenen Stimme, eingeschüchtert
von der Stille, flüsterte es nur noch bittend zu Fritz empor: »Zeig mir
doch die Jungen.«
Fritz schlich langsam zur Stelle, wo sich hoch oben im Gebälk
das Nest befand.
»Zeig!« flüsterte das Kind noch einmal und streckte ihm seine
Ärmchen entgegen.
Er beugte sich nieder, packte sie unter den Schultern und hob
sie empor. Sie begann unter seiner Berührung zu lachen, leise, weich,
gurrend wie Taubenlaut. Er hielt sie noch höher, ganz streckte er die
Arme aus, stellte sich auf die Fußspitzen, obwohl er nie die Höhe des
Nestes erreichen konnte. Das Kind, lachend in seinen Händen, drohte zu
fallen, mit einem schwingenden Griff packte er es fest an den Beinchen
und hielt es hoch über seinem Kopf. Sein tief in den Nacken geneigtes
Gesicht war schwarz gerötet, die Lider geschlossen über den in Nebeln
schwimmenden Augen, die Kiefer des weitgeöffneten Mundes zitterten im
Krampf.
Von böser Macht emporgezaubert stieg die furchtbare,
teuflische Maske auf aus den Tiefen seines Blutes und überschwemmte mit
wilder Gier die sanften Züge seines engelgleich gebildeten Gesichtes.
Unter dem Röckchen fühlte er des Kindes zartes, weiches
Fleisch. Leise durchzittert von Pulsen, ruhte es kühl zwischen seinen
heißen, adernklopfenden Händen. Und nun raste sein Herz
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