Das verlorene Kind
warf Emma, die neben ihr saß, einen flehenden Blick zu.
Emma stand auf und eilte ins Haus. Alle blieben stumm mit
gefalteten Händen sitzen. Nur Fritz und Karl am unteren Ende der Tafel
flüsterten leise miteinander, wie sie am besten das Feuer des
Scheiterhaufens entzünden könnten. Karl wollte Reisigbündel, wie man
sie in der Küche zum Herdanzünden hatte, verwenden, doch Fritz riet
leise: »Nein, Petroleum, da brennt es gleich viel höher!«
Emma kam aus dem Haus zurück, das sie leise und schnell
durchsucht hatte, schüttelte stumm den Kopf.
Der Herr löste die gefalteten Hände auseinander. »Jeder bete
für sich und beginne zu essen!« sagte er.
Sie neigten von neuem die Köpfe und bewegten die Lippen;
Unruhe und Furcht im Herzen, begannen sie eilig zu essen.
»Wo war das Kind zuletzt?« fragte der Mann.
»Es ist zum Teich gegangen!« antwortete die Frau ebenso leise.
Der Herr schwieg, sah auf die Essenden und wartete. Sie legten
die Löffel aus der Hand und sahen ihn an.
»Dankt noch!« sagte der Herr. Sie beteten wieder, jeder für
sich. Dann stand der Herr auf.
»Was hat die kleine Anna am Teich gemacht?«
Friederike und Minna wurden gefragt.
»Wir haben gespielt. Sie hat uns Kuchen geschenkt Nachher ist
sie mit Fritz fortgegangen.« Die beiden Mädchen zitterten am ganzen
Körper. Tränen standen ihnen schnell in den Augen.
»Fritz wollte ihr ein Vogelnest zeigen, mit Jungen«, fügte
Minna, die jüngere von ihnen, noch hinzu.
»Fritz, komm her!«
Fritz stand auf und trat vor den Herrn. Weiß und zart war sein
müdes, erschöpftes Gesicht, träumerisch der Blick der sanften Augen.
»Wo hast du die kleine Anna zum letzten Male gesehen?«
»Beim Teich, Herr!«
»Aber sie ist doch mit dir fortgegangen vom Teich!«
»Das weiß ich nicht, Herr. Ich habe schwer getragen an den
Weidenruten für Güse!«
»Wo hast du ihr das Vogelnest gezeigt?«
»Ich weiß von nichts, Herr. Ich weiß gar kein Vogelnest.«
Der Herr fragte die anderen, alle der Reihe nach, niemand
hatte das Kind gesehen.
»Hat jemand wen Fremdes auf dem Hof gesehen?«
»Ich, Herr, ich habe einen Bettler auf dem Hofe gesehen, kurz,
ehe gemolken wurde«, rief Fritz.
Die Leute, die in Schlag sieben gemäht hatten, nickten
beistimmend, sie hatten einen Mann durch die Felder eilig nach dem Wald
laufen sehen.
»Helft suchen!« sagte jetzt der Herr.
Sofort stürzte alles auseinander. Die Sorge um das Kind war
groß. Man lief in die Felder, die Männer wateten durch das schön und
dicht stehende, kindeshoch ragende Korn. Die Frauen suchten im Garten,
bogen die Zweige der Büsche und Hecken auseinander; unaufhörlich
ertönte der Name des Kindes, von den vielerlei verschiedenen Stimmen
lockend und beschwörend in Liebe und Angst gerufen. Doch im Frieden des
sinkenden Abends kam ihnen keine Antwort.
Die Mutter rannte zum Teich. Obwohl sie von den Hirtinnen mit
Bestimmtheit vernommen hatte, daß das Kind vom Teich fortgegangen und
nicht wieder dahin zurückgekehrt sei, glaubte sie doch, es halte sich
noch dort versteckt. Unaufhörlich umkreiste sie das Ufer, wühlte in dem
dichten Weidengebüsch, immer wieder lockten sie die in der Dämmerung
silbern aufschimmernden Blätter der Weiden, spiegelten ihr das lichte
Haupt des Kindes vor. Fern lag ihr jeder Gedanke an Unglück oder Tod.
Sie lächelte, sie glaubte fest daran, daß das Kind, heute besonders
übermütig, sich versteckt habe, leise irgendwo schelmisch lachen und
plötzlich ihr an den Hals springen würde. Von neuem bog sie suchend die
Weiden auseinander, rief, lachte dem Kind entgegen. Plötzlich sah sie
am Boden etwas Helles leuchten, mit einem Schrei stürzte sie darauf zu
und hob es auf, es war das Körbchen des Kindes, in dem es Futter für
die Enten und seinen Kuchen mitgenommen hatte. Nun fiel ihr wieder ein,
daß das Kind doch vom Teich fortgegangen sei, es hatte sich ins Haus
geschlichen und dort sich versteckt, dann war es wohl eingeschlafen.
Und sie kehrte zum Haus zurück, durchsuchte es von oben bis unten,
hielt die Arme ausgebreitet, denn jeder Augenblick mußte ihr das Kind
bringen, sie es finden lassen.
Der Vater hatte in weitestem Bogen um das Gehöft gesucht. Er
hatte die beiden Söhne neben sich. Sie waren über die Felder hinaus-,
durch die Wiesen bis zum Wald gegangen.
»Vielleicht hat sie uns entgegenlaufen wollen bis zum Wald und
hat sich verirrt«, sagte er zu den Söhnen. Doch er glaubte nicht an
Weitere Kostenlose Bücher