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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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nochmals unter der Führung des
Fischer-Andres alle bis im weitesten Umkreis liegenden Gewässer und
Teiche. In drei Booten, in denen je vier Mann standen, überquerten sie
die im Morgen duftig glitzernden Wasserflächen, durchzogen sie mit
langen Stangen und Haken, mit Netzen bis auf den Grund. Die kleinen
Wehre wurden aufgelassen, obwohl ein Teil der Wiesen dadurch plötzlich
überschwemmt wurde, und breite Netze wurden unter das verschäumende
Wasser gehalten.
    Die Söhne mit den Fällern durchstreiften den Wald.
    Emma mit den Mägden durchsuchte Haus, Keller und Boden
nochmals, jedes Gefäß wurde umgewendet, jede Tür geöffnet, jeder Sack
umgeleert, im Garten die dichten Zweige umgebrochen, die Bäume
geschüttelt, das Bienenhaus nachgesehen. Zuletzt kam sie mit den Mägden
in die offene Scheune Nummer vier. Diese war dunkel, heiß, glatt und
eben der mit Stroh fußhoch bedeckte Boden. Sie gingen durch die Mitte
und auch die Wände entlang, sie bemerkten nichts. Unmöglich konnte auch
das Kind in dem offenen, ebenen Raum zu Fall gekommen sein.
    Um sieben Uhr morgens trafen alle wieder auf dem Hof zusammen,
nachdem drei Stunden lang dreißig Menschen gesucht hatten. Fritz war
inzwischen aufgestanden, hatte die Ställe geöffnet und das Vieh zu
versorgen begonnen.
    Er lief ausgeruht, frisch, eilig und arbeitsfreudig umher. Der
Herr befahl, daß man mit Suchen aussetzen und die nötige Arbeit erst
vornehmen solle. Er hieß Fritz anspannen und fuhr mit Blank und dem
Fischer nach der Stadt, um Anzeige zu erstatten.
    Die Frau war am Morgen erwacht, schlafestrunken vernahm sie
den Lärm des Tages vom Hof herauf, verwundert richtete sie sich auf,
strich sich über die schmerzende Brust, die eingedrückt über den Kanten
des schmalen Kinderbettes gelegen hatte. Lange mußte sie sich besinnen,
warum dieser Morgen nicht wie alle andern war, warum das Bett des
Kindes leer, ihr eigenes unberührt und sie beim Erwachen allein war.
Plötzlich wurde sie dann von der Erinnerung an den vergangenen Tag
überfallen, das Kind war also noch nicht gefunden. Sie schlich sich
langsam in die Küche hinab, sah die bleichen, verstörten Gesichter, sie
suchte den Mann und erfuhr, daß er in die Stadt gefahren sei. Verloren
stieg sie die Treppe wieder empor ins Schlafzimmer, setzte sich auf den
Rand ihres Bettes und verharrte so still in Erwartung. Sie konnte
nichts Böses glauben. Sie hoffte auf die Rückkehr des Mannes. Wenn das
Kind nicht im Hause versteckt war, war es vielleicht doch fortgelaufen,
fremde Menschen hatten es aufgenommen, hatten es wohl in die Stadt
gebracht, es würde dem Vater zugeführt werden, denn seinen Namen konnte
es schon sagen, und den Vater kannte jedermann.
    Am Mittag hörte sie den Mann zurückkommen. Ihr Herz klopfte,
freudige Röte schoß über ihr Gesicht. Aber seine Schritte kamen nicht
zu ihr, Sprechen und Lärmen erhob sich wieder im Hof. Sie ging ans
Fenster und sah die Leute alle versammelt um den Herrn, der unter ihnen
stand. Hunger quälte sie. Niemand schien sie zu vermissen, niemand
fragte oder rief nach ihr. Und es war doch ihr Kind, sie hatte es
geboren und aufgezogen, man mußte ihm helfen und ihr, der Mutter. Ihr
dunkler, geweiteter Blick feuchtete sich in Tränen, sie wagte nicht,
hinunterzugehen, unter die trostlosen, müden Gesichter der Menschen zu
treten, sie setzte sich wieder nieder, wartete auf freudige Botschaft.
    Die Hände über die aufgeregte, leise noch schmerzende Brust
gekreuzt, lächelte sie vor sich hin, in Erinnerung an den
glückverheißenden Traum der Nacht. Wie die Blumen im Traum, so würde
der Mann ihr das Kind wiederbringen, dann wollte sie sich an seinen
Hals hängen, ihn küssen, ihn nicht versinken lassen wie im Traum, sie
war ja noch jung, das Kind war gesund und schön, sie mußten glücklich
sein.
    Unten war schnell zu Mittag gegessen worden, dann wurde
nochmals gesucht. In geordneten Trupps wurden nochmals die
Roggenschläge kreuz und quer durchzogen, die Gewässer beobachtet, die
Wasserrinnen und Mergelgruben der Felder durchstöbert, Ställe, Gärten,
Hecken und alle Winkel durchforscht. Zur Vesper kamen wieder alle
zusammen. Schnell wurde gemolken, dann sammelten sich wieder alle um
den Herrn. Scheu kam von der Haustür her auch die Frau geschlichen und
mischte sich in den Kreis. Sie sah den Mann an und begriff nicht, daß
so Furchtbares geschehen sein sollte, das sein Gesicht so hart und
versteinert

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