Das verlorene Kind
gerichtet. Leise rief sie seinen Namen. Er rührte
sich nicht. Sie richtete sich im Bette auf. In der aufflammenden Sonne
erkannte sie langsam, mit geblendeten Augen, deutlich seine breiten
Schultern, seinen Nacken, und, daß das Haar seines Hauptes weiß
gebleicht war in dieser Nacht. Sie eilte zu ihm und rüttelte ihn an der
Schulter. Er wollte sich erheben, doch seine großen Glieder schienen
ohne Kraft, die Arme, gestützt auf das Fensterbrett, knickten zitternd
ein, von neuem sank er mit dumpfem Schlag in die Knie. Die Frau wollte
ihn hochziehen und griff nach seiner Hand. Doch kaum hatten ihn ihre
warmen, vollen Finger berührt, als er aufgeschnellt plötzlich vor ihr
stand, hochgereckt, um Haupteslänge größer als sie, das weiße, wirre
Haar über der hohen Stirn, die Augen ganz verhangen von den schweren
Lidern, der Mund verdeckt von dem zerzausten Bart, der allein noch die
Lebensfarbe behalten hatte. So wich er fremd vor ihr zurück. Er riß
seine Hand von ihr los, an dem leeren Bettchen des Kindes vorbei ging
er aus dem Zimmer.
Die Frau stand still und sah mit ihren weitgeöffneten Augen im
Zimmer umher. Sie weinte nicht. Sie konnte Unglück nicht begreifen. Sie
strich ihre Kleider glatt, in denen sie geschlafen hatte, mit einem
Kamm fuhr sie durch ihr langes, dunkles, aufgelöstes Haar, drehte es im
Nacken zu einem Knoten und stieß die Haarnadeln tief ein. Sie lächelte.
Sie glaubte und hoffte.
Es war fünf Uhr, und alle waren schon wach. Die Ställe wurden
geöffnet, die Schäfer trieben die Herden hinaus, die Hammel und Ziegen
stürmten auf die Weide, die Kühe sammelten sich zum Melken.
An der Tür des Hauses stand der Herr, wie jeden Morgen. Tiefes
Erschrecken ging von seinem ergrauten Haupte aus. Alle, die es an
diesem Morgen erblickten, sanken in sich zusammen. Erschüttert, verzagt
und mutlos gingen alle an die Arbeit. Noch bewegte sich alles in dem
alten, guten Gleise, in der tief eingewurzelten Ordnung. Doch der Blick
des Herrn, der bewacht, angefeuert und auch gedankt hatte, fehlte bald
über allem. Schon an diesem Morgen sah er nicht die Züge seiner Herden
an sich vorüberziehen, zählte nicht mehr ihre Zahl, sondern unter den
schweren Lidern hervor erblickte er nur die verkohlten Reste des
Scheiterhaufens, die schmutzigen Spuren der durchsuchten Gruben auf dem
Hof und weiterhin die zerstampften, niedergetretenen Kornfelder. Nur
die Scheune Nummer vier war wie immer. Ihre Tore waren weit geöffnet,
hin und wieder schoß ein Vogel in weitem Bogen aus dem Licht in die
Finsternis des fensterlosen Raumes, eine Atzung im Schnabel, oder
kehrte aus dem Dunkel zurück und senkte sich in das Korn nieder. Das
dunkle Dach der Scheune zeigte den neuen, helleren Fleck, an dem es
ausgebessert war.
Auf dem Hausflur trat der Fischer Andreas zu ihm. »Sollen wir
nicht noch einmal suchen, Herr?« fragte er leise.
Christian stand still, und es dauerte eine Weile, ehe er
antworten konnte. Die schweren Lider hoben sich nicht von den Augen,
und der Mund schien sich nur schwer zum Sprechen zu bewegen.
»Sucht nur,« sagte er endlich, »das Wasser treibt oft erst den
dritten Tag auf. Tut alles, was not ist.«
Der Fischer wandte seinen Blick nicht von seines Herrn
gebleichtem Haar, bis dieser in die Wohnstube eingetreten und die Tür
leise und fest hinter sich geschlossen hatte.
Im Wohnzimmer ließ sich Christian vor dem Pult seines
Schreibsekretärs nieder. Er stützte den Kopf auf und legte müde Stirn
und Augen in seine Hände. In der Nacht, die sein Haar gebleicht hatte,
waren in menschlicher Verzweiflung seine Knie zusammengebrochen, hatte
das Bild seines Kindes, erstanden aus der väterlichen Sehnsucht, in
tiefstem Schmerz sein Herz bewegt, doch jetzt war alles leer, tot seine
Brust, vernichtet die Welt, die Gott erschaffen, in Sinn und Gesetz
erhalten hatte nach seinem Glauben bis zu diesem Tage. Alles war
zertrümmert und versunken, nur er selber war noch, atmete, lebte, er
fühlte seine aufrechten Schultern zu Seiten des starken Rückens, der
noch nicht gebeugt war, der noch immer Schläge empfangen, noch Bürden
auf sich nehmen konnte.
Er hob den Kopf und zog langsam mit der rechten Hand das
oberste Schubfach des Sekretärs auf. Er entnahm ihm eine längliche
Geldschatulle aus grünem, dicht geflochtenem Metalldraht und öffnete
sie. Ihr Inneres war eingeteilt in verschiedene Fächer. Darin lagen
sortiert die Geldmünzen, Gold- und
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