Das verlorene Kind
umgeschaffen hatte, das seinen, des Herrn, Mund stumm
hielt, indes Blank, der Wirtschafter, reden mußte.
»Herr,« sagte der Wirtschafter, »mit Suchen ist da nichts
mehr. Das ist aber auch ganz gut, daß wir gar nichts gefunden haben, da
ist doch wenigstens nicht das Schlimmste passiert. Aber weiter weg, als
wir gesucht haben, ist die kleine Anna doch wohl auch nicht gelaufen.
Ich glaube da nun, daß da vielleicht so elende Zigeuner das Kind
verschleppt haben. Was soll sonst sein? Oft genug hat man das ja
gehabt, und unsere kleine Anna war ja wohl ein schönes Ding, wie sie es
gern haben. Was denkt Ihr?«
Ein allgemeiner Aufschrei der Erleichterung brach aus. Das
allein konnte die Lösung sein, das mußte es sein, das war schlimm, aber
doch nicht das Allerschlimmste, das Kind lebte doch wenigstens noch,
man konnte es den Zigeunern wieder abjagen, abkaufen, mit Geld alles
wieder gutmachen. Alle die müden Gesichter und Gestalten belebten sich
wieder, die Mutter aber jubelte, das war die neue Hoffnung, die
Zuversicht, die ihr Herz brauchte.
Der Herr sah stumm den Wirtschafter an. Er wußte, es war ein
kluger und überlegter Mann, er würde nichts sagen, was er nicht
glaubte, und es war gut, daß doch die andern noch glaubten.
In der Wohnstube setzte sich der Herr vor den Schreibsekretär
und verfaßte ein Schreiben, das das Verschwinden des Kindes vermeldete,
seine Gestalt beschrieb und verkündete, daß der Vater für Nachrichten
oder Wiederherbeischaffung eine Belohnung von dreihundert Talern
aussetze. Die Mutter holte die Photographie des Kindes herbei, das
Geschenk an den Vater. Mit diesen Papieren versehen, brach der Herr zum
zweitenmal auf und fuhr nach der Stadt.
Auch dieser Tag ging zu Ende. Mit Mühe vollendeten die vor
Müdigkeit fast umsinkenden Leute die nötige Arbeit. Große Hilfe
leistete Fritz, der an dem allgemeinen Suchen und der allgemeinen
Aufregung nicht teilgenommen hatte und für drei arbeitete. So sanken
alle, als noch der Abend licht über allem schwebte, in tiefen Schlaf.
In Ruhe lagen der Hof und das Haus schon da, als der Herr zurückkehrte.
Er spannte selbst die Pferde aus und verschloß die Ställe.
Zu tun blieb nichts mehr. Er ging ins Haus, die Treppe empor
und trat in das Schlafzimmer ein. Auf dem Bett lag die Frau, mit
seufzenden Atemzügen schlafend, die Hände über ihrem Schoß gefaltet.
Der Mann sah sie an in der sommerlichen Dämmerung, die nicht Licht und
nicht Dunkelheit war. Durch ihre schlafesgeschlossenen Augen fühlte er
ihren dunklen Blick, jenen weitgeöffneten, nachtschwarz wogenden Blick.
In ihm versenkt war die Finsternis der Kindheit, die er gefürchtet
hatte, eine zweite, böse, unsichtbar belebte Welt, ein zweiter, dunkler
Gott gegen den Gott seiner Seele, gegen den Gebieter der gerechten
Gebote, den Erfüller der guten Gebete.
Er wandte sich von ihr ab. Die Dunkelheit, die zunahm, fühlte
er nicht. Er trat an das Fenster und sah gegen den Himmel. Von dem Bild
seines Kindes war die dunkle Luft erhellt. Er sah es, von lichten
Locken umspielt sein kleines Haupt, weiß leuchtend und rein seine
Stirn, strahlend der Blick der hellen Augen, schimmernd sein
unschuldiges Lächeln auf dem feuchten Blumenblatt des Mundes. In sein
Herz brach Glanz vom Widerschein seiner zarten, reinen, vor ihm
schwebenden Gestalt. Wohin war es gegangen? Welches Böse hatte sein
reines, schuldloses Dasein angelockt, welcher Tod sein
freudestrahlendes Leben zerbrochen?
In dem menschlichen Schmerz, der jetzt in ihm sich löste, in
der heißen Sehnsucht seiner väterlichen Liebe nach dem Kind brach der
Mann in die Knie.
Er sank vor dem Fenster zusammen. Von seinem Kinn, auf das
Fensterbrett aufgeschlagen, ward sein Haupt emporgehalten, sein Blick
hinaus in die Dunkelheit gerichtet.
In der Nacht, die um ihn stand, ahnte der Vater das Furchtbare.
Die Luft war lau und still, die Erde ruhte dunkel und trug die
Früchte des Sommers.
Der Himmel, blau getönt, licht und zart gespannt, trug die prunkenden
Gestirne.
Menschen und Tiere um den einsamen Wachen schliefen.
II
Am Morgen des sechsundzwanzigsten Juni, im ersten Schimmer des
Lichtes, das golden wie immer aufstieg, erwachte die Frau. Sie hatte
tief geschlafen. Ohne sich zu regen, wendete sie den weitgeöffneten
Blick zum Fenster. Dort kniete der Mann, das Kinn auf die Fensterbank
gestützt, das Haupt steil emporgerichtet, unbeweglich Gesicht und Blick
gegen Luft und Himmel
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