Das verlorene Kind
entnehmen war, daß das verlorene Kind von den Zigeunern ermordet sei,
stand sie still über der fassungslos weinenden Klara. Seit langem zum
ersten Male stieg wieder das Bild ihres Kindes vor ihrer Seele auf. Sie
sah sein Antlitz, seine Gestalt, sie spürte den Duft des kleinen
nackten Körpers, der ihm entströmt war, wenn sie ihn wusch oder
ankleidete. In dem tiefen Wohlgefühl dieser Erinnerung erbebte ihr
Herz, ein Strom beglückenden Schmerzes durchfuhr ihren erwachenden
Leib, um tief, im Innersten ihres Schoßes zu versiegen. Sie lächelte
verzückt: »Sei ruhig,« sagte sie, »weine nicht. Wenn Christian kommt,
werden wir wieder ein Kind haben.«
Klara erhob ihren tief zum Weinen herabgeneigten Kopf und
starrte sie an. Zwei Mütter standen einander gegenüber. Die fruchtbare,
deren Leib noch immer gebären konnte, deren Schoß über das
todverzweifelte Herz siegen wollte, und die kinderlose, deren Leib
verdorrt war schon in der Blüte, und die ihr Herz nun belud mit der
Liebe zu dem verlorenen Kind, mit Lasten voll Kummer und Schmerzen um
sein Schicksal. Durch den Schleier von Klaras Tränen schimmerte das
glühende, lächelnde Gesicht Marthas verklärt und vielgestaltig
hindurch. Ja, dachte sie, Martha würde wieder ein Kind haben, diese
Mutter, die ihr Kind verlieren ließ, ermorden und vergehen, ohne daß
sie selbst verging, sie würde ein neues Kind tragen und neue Freuden
empfangen, das Leid aber dem Vater lassen. Denn der Bruder, ihr Bruder,
war ein Gatte, war Vater, Leben und Freude spendender Vater, so wie sie
selbst eine selige, sorgende, hütende, heißliebende Mutter gewesen
wäre. Waren sie nicht beide eines Stammes Zweige? Und doch hatte sie
einsam bleiben müssen, verkümmern in der eigenen Fülle und Üppigkeit,
und seine Kinder wurden von einer kalten Mutter geboren, waren verwaist
schon bei Lebzeiten der Eltern. Sie wandte sich von Martha ab, kümmerte
sich von diesem Tage an kaum mehr um sie. Doch Martha empfand nichts.
Sie lebte ohne Erinnerung an die Vergangenheit, ohne Gefühl für die
Gegenwart, nur im Traum der Zukunft, in der Hoffnung auf neues Glück.
Müßig trieb sie sich die Tage im Hause umher, dann wieder plötzlich war
sie verschwunden, lief stundenweit die Landstraße entlang und kehrte
abends erst zurück. Sie aß fast nichts, und ihre körperlichen Kräfte
nahmen ab. Ihre Gestalt wurde hager, das Gesicht sank ein, und doppelt
groß und unheimlich glühten die schwarzen, aufgerissenen Augen unter
der gefalteten Stirn.
Klara hatte Mühe, neben der Arbeit im eigenen Haus auch noch
das Anwesen des Bruders zu überwachen. Da der abwesende Herr nur selten
schrieb und oft die dringendste Vorsorge zu vergessen schien, waren
alle im unklaren und ohne jeden Rat. Einmal, am Sonntag, mitten in der
Ernte, war mit den beiden Söhnen auch der Wirtschafter zu Klara
gekommen, hatte lange verlegen geschwiegen und dann gesagt, daß gestern
kein Geld zur Löhnung dagewesen sei, da keine Zahlungen gekommen waren
und der Herr auch kein Geld hatte schicken lassen. Erschreckt lief
Klara zu ihrem Mann, der die Summe, wenn auch nicht ohne Kopfschütteln
und mißbilligendes Staunen, gegen eine Unterschrift Marthas herlieh.
Der Wirtschafter, bis ins tiefste Herz seinem Herrn ergeben, sah wohl
das verächtliche Lächeln auf dem feisten Gesicht des Barons, und als
eine Woche später noch immer kein Geld da war, versammelte er die
Arbeiter und Knechte nach Feierabend um sich und sagte ihnen, daß die
Viehhändler, die große Summen schuldeten, ebenso wie die
Getreideaufkäufer und die Müller, das Unglück der Herrschaft wohl
ausnützen wollten und nichts mehr gezahlt hätten seit den sechs
unglücklichen Wochen, und daß der Herr in den Aufregungen um das Kind
wohl vergessen hätte, welches zu schicken, kurz, daß nur Geld da wäre
vom Erlös des Wochenmarktes, der aber auch wegen der Ernteverpflegung
nicht so hoch sei wie immer, und dieses Geld würde er jetzt verteilen.
Sie müßten aber unbedingt reinen Mund halten, und übrigens sei das Geld
bei Christian B. so gut wie auf der Sparkasse und sie würden
noch Zins daraus ziehen. Die Leute hörten alles ruhig an und sagten
weder Ja noch Nein. Sie nahmen ihre Groschen und gingen schweigend zu
Tisch. Beim Essen fragte ein junger Knecht: »Erntefest werden wir wohl
auch nicht haben?«
»Wem es nicht recht ist, kann gehen«, sagte da der
Wirtschafter böse und kurz. Schweigend aßen alle zu
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