Das verlorene Kind
Die Tiere stampften
auf, mit einem Ruck geriet der Wagen ins Rollen, raste mit seiner
ungeheuren Last los, die Auffahrt hinauf, und donnerte über die
Schwelle der Scheune. Genau unter dem Tor sprang Fritz vom Kutschbock
auf, mit der ganzen Kraft seines Körpers riß er die Zügel zurück, und
langsam verrollte der Wagen auf der dicken, weichen Schicht des
Bodenstrohes. Die Pferde standen, etwas Schaum vor dem Maul, mit
unbeweglichen Köpfen in der plötzlichen Dunkelheit. Das Stampfen ihrer
Hufe dröhnte dumpf auf dem strohbedeckten Boden. Jeder lebendige Laut
war mit einem Male erstickt, selbst die eigene Stimme erklang
grabesfern dem Ohr. Das blendende Licht des Sommertages war erloschen,
heiße, tote, von Modergeruch erfüllte Luft herrschte hier und
schreckliches Schweigen. Fritz fühlte kalten Schweiß aus allen Poren
seines Körpers zugleich ausbrechen. Er stand unbeweglich, nur seine
Augen schossen umher.
Der Wirtschafter war dem Wagen nachgekommen und trat nun auch
in die Scheune ein. Er blieb betroffen stehen: »Das ist ja eine
schreckliche Hölle hier drinnen«, sagte er und versuchte zu lachen.
»Ich will gleich die Pferde abreiben«, erwiderte Fritz und
begann mit mühsamen, schweren Bewegungen die Pferde auszuschirren und
hinauszuführen. Beim Abladen der Garben half er nicht, doch fuhr er
alle Wagen ein, da er, wie er sich rühmte, die Auffahrt so gut zu
nehmen verstand. Wagen auf Wagen fuhr er so in die Scheune und sah, wie
ihre ungeheuren Fächer mit Getreide sich füllten. Er dachte an nichts
zurück und wandte den Kopf auch nie nach jenem Winkel, der nun auch
schon verdeckt war durch die aufgehäuften Berge der Garben. Einmal nur,
als er bei dem Aufschichten des letzten Getreides, das fast bis zur
Decke reichte, helfen mußte, und er hoch oben auf einer der
Getreidemauern stehend, die emporgeworfenen Garben auffing und
einlagerte, suchte er, in Sorge, daß die Tiere ersticken könnten, das
Nest mit den Vögeln. Aber es war, jetzt im August, schon leer.
Die Scheune war gefüllt und wurde geschlossen. Vier Mann waren
nötig, um die Riesenflügel des Tores in den verrosteten Angeln zu
bewegen. Sie teilten sich in Gruppen zu je zwei, packten die Flügel und
liefen von links und rechts mit voller Wucht den weiten Bogen von der
Mauer bis zur Mitte der Öffnung gleichzeitig aufeinander los und mußten
zweimal ansetzen, ehe endlich die Ränder der Flügel ineinandergriffen.
Ein großer, schwerer, eiserner Riegel wurde vorgelegt und durch ein
Schloß versiegelt.
Alle standen, schwer atmend, noch eine Weile still. Fritz
lachte. »Das war die allerschwerste Arbeit.« Der Wirtschafter erzählte
von den Nachrichten über den Zigeunerprozeß, daß man die Leiche des
Kindes doch nirgend finden könne. Alle hörten schweigend zu, Fritz
sagte traurig: »Ach, die werden sie nie finden, die haben sie wohl gut
versteckt.« Niemand achtete auf seine Worte, und langsam gingen die
Leute in den Hof zurück. Fritz suchte nach seiner Mutter und ging ihr
nach bis in den Milchkeller, wo sie Rahm für die Butter abnahm. Er
griff zu und nahm ihr den schweren Topf ab, den sie zwischen den Knien
hielt. »Was willst du hier?« frug sie.
»Hier ist es kühl«, sagte er leise. Nach einer Weile fügte er
hinzu: »Es hat schon wieder kein Geld gegeben.«
»Du brauchst kein Geld!« sagte die Mutter streng.
»Ich meine nur, für dich«, sagte er.
»Ich brauche auch keins«, sagte sie kurz, aber sie war doch
gerührt und legte beim Hinaufgehen ihren Arm um ihn, und er schmiegte
sich schnell in ihre Umarmung, und alles war heiter und ruhig in ihm.
Die Arbeit nahm ihren Fortgang, schenkte ihm Freude und
Zufriedenheit für die Tage und tiefen traumlosen Schlaf für die Nächte,
die Zärtlichkeiten der Mutter erfüllten seine Feierstunden. An den
Nachmittagen der Sonntage saßen sie zusammen im Garten in der kleinen
Laube, und er mußte ihr Lieder aus dem Gesangbuch vorsingen, oder sie
lehrte ihn auch andere Lieder, Liebeslieder, die sie aus der Jugendzeit
noch kannte. Sie hörte mit Entzücken seiner schönen sanften Stimme zu.
Gerade als der Schnitt beendet war, erschien die
Gerichtskommission und nahm nochmals den Tatbestand auf. Vor der zur
Zeit des Unglücks offenen, jetzt aber schon geschlossenen Scheune
Nummer vier erklärte der Wirtschafter, daß auch diese seinerzeit
durchsucht worden, und es sei überdies, da sie völlig leer und eben
war, ein etwaiges
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