Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
Vom Netzwerk:
sein, warum glaubt Ihr das?«
schrie der Alte erregt. »Ihr seid gottlos, wenn Ihr so Böses glaubt.
Warum soll es tot sein? Warum soll ein Mensch so böse sein und ein Kind
umbringen? In der Schlacht, ja, da muß man die Menschen umbringen. Ich
habe auch Menschen umgebracht; es war für das Vaterland und für den
heiligen Glauben. Darum habe ich auch den Glauben, daß kein Mensch so
böse ist und dein kleines unschuldiges Kind umbringt. Ich habe Menschen
umgebracht in der Schlacht, weil ich an Gott dachte, aber ich kann nie
ein Kind umbringen. Das will Gott nicht. Ihr dürft nicht an das Böse
glauben, das ist gottlos. Betet zu Maria, weiht ihr Kerzen, sie liebt
die unschuldigen Kinder, sie ist eine mächtige Fürbitterin, aber Ihr
dürft nicht an das Böse glauben.«
    »Es kann auch schon gestorben sein«, sagte der Vater beschämt.
    »Dann ist es bei Gott, es ist ein Engel, denn es war ein
unschuldiges Kind. Es ist auferstanden als Engel, denn Christ ist für
uns gestorben,« sagte der Alte feierlich und bekreuzigte sich, und alle
schlugen das Kreuz. »Aber du suchst ja das Kind,« fuhr er dann wieder
fröhlich fort, »es lebt doch. Du hast keinen Glauben. Auch wenn man
leidet, muß man glauben, weißt du das nicht? Wo bist du her? Es gibt ja
Städte in der Welt, da haben die Menschen keinen Glauben. Aber Gott
wird dich erretten, darum mußt du dein Kind suchen, er wird deine Seele
erretten.« »Gott wird seine Seele erretten«, sagte er zu den anderen.
    »Und das Kind, zu dem er fährt, wird es sein Kind sein?«
fragte die junge Frau.
    »Es wird sein Kind sein,« antwortete der Alte bestimmt, »Jesus
hat sich der Kinder erbarmt!«
    Die junge Frau, in Gedanken an ihre erste Geburt, ging in eine
Ecke des Zimmers, kniete vor dem Muttergottesbild nieder und betete.
    Still saß der Vater da, ein einsames untröstliches Herz
inmitten glaubensseliger Herzen. Sein weißes Haupt, sein
blickverhangenes Gesicht, die leuchtende, hohe Stirn überweht vom
Hauche eines auserwählten, unerbittlichen Schicksals. Die anderen
verstummten und sahen ihn an. Er stand auf und reichte einem jeden von
ihnen die Hand. Die junge Frau kam zum Tisch zurück, und ihre weichen
braunen Augen auf Christian gerichtet, flüsterte sie dem Alten einige
Worte ins Ohr.
    »Sie hat für dich gebetet,« sagte der Alte zu ihm, »fürs Kind
und für die Mutter, sie wird eine Kerze für dich opfern. Ja, ja, auch
ich sage dir: Alle Heiligen mit dir und der armen Mutter!« Und die
beiden Männer umarmten sich zum Abschied.
    Die Reisenden wollten am nächsten Morgen früh aufbrechen, um
endlich noch am selben Abend zum Ziele zu kommen. Sie hatten das Lager
früh aufgesucht. Doch schlaflos lag der Vater. Im Sturm klopfte sein
Herz gegen seine Brust. Die Worte des Alten, die Gebete und Wünsche
aller Menschen an diesem Abend, die Hoffnung, die unzerstörbar aus
ihren guten Augen geleuchtet hatte, alles das drang jetzt in der
Erinnerung mit lebendiger Gewalt gegen seine in der Verzweiflung
erstarrte, dem Tode mit Erwartung, ja mit Liebe hingegebene Seele vor.
Furcht und Schrecken erregten ihn im Tiefsten seines Innern. Wenn sein
Kind noch lebte, konnte er zurück? Zurück zur Freude, zur Arbeit,
wieder in Gesundheit und Kraft schaffen für Weib und Kinder, für
Knechte und Mägde, säen und ernten, befehlen und belohnen, sorgen und
gewinnen, zurück wieder in die wunderbare Ordnung der Jahreszeiten, in
die Ordnung von Tag und Nacht, Gebet und Erfüllung, Bitte und Dank, und
leben, ahnungslos den Tod im Rücken, der kommen konnte, hart und
schnell wie ein Mörder oder wie eine gütige Hand, die mitleidig die
müde Kerze des ausgebrannten Leibes verlöschte? Er sollte sein Antlitz
zurück vom Tod, dem Leben wieder zuwenden?
    Er stand auf und wanderte bei dem Licht der Kerze im Zimmer
umher. Er sah auf den schlafenden Sohn, auf sein gesundes, im Schlaf
gerötetes Gesicht, auf den halb geöffneten Mund, der mit feuchten,
roten Lippen den kräftig strömenden Atem von sich blies. Alles wieder
lieben, die Söhne, die Frau und den wiedergeschenkten, holden Zauber
des jüngsten Kindes, die Bürde der Freuden und die herrliche Last des
Glückes wieder aufnehmen? Er rang die Hände, preßte sie gegen sein
Herz. Zeigte sich ihm jetzt Gott, wollte sich ihm zeigen in seiner
unendlichen Güte?
    Er erwartete wachend, in Ungeduld, den Anbruch des Tages,
weckte den Sohn, trieb eilig zum Aufbruch, und sie kamen um fünf Uhr

Weitere Kostenlose Bücher