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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Kreuzeszeichen und betete. Gern
hätte Karl, der Sohn, auch gebetet. Doch er wagte es nicht, hier im
Freien, ohne Pfarrer, ohne Sonntag. So faltete er wenigstens die Hände
und blickte auf die Stadt nieder.
    Als der Kutscher wieder aufgestanden war, lächelte er ihnen zu
und deutete ihnen an, daß sie jetzt aussteigen müßten. Während die
beiden nebenher schritten, führte er das Pferd langsam die Anhöhe
hinab, auf ein großes Brückentor zu. So zogen sie in die Stadt ein,
angestrahlt von ihrem Licht, angehaucht von dem Atem der vielen,
fremden, dicht an ihnen vorüberstreifenden Menschen und noch umklungen
von dem Geläut der Glocken, die nun, während sie am Fuße der Kirchen
die Straßen und Plätze überschritten, hoch oben zu ihren Häupten ihre
gewaltigen Töne niederströmten. Wie Träumende folgten beide ihrem
Führer mit Schlitten und Pferd in eine kleine Herberge in den
Seitenstraßen der Stadt, wo alle drei übernachteten.
    Am nächsten Vormittag blieben sie noch zusammen. Freundlich
führte sie der junge Bursche, mit schnellen, gewandten Schritten seinen
langen Pelz mit sich ziehend, zur Posthalterei, und half dem Vater,
zwei Plätze für die Mittagspost zu erwerben. Lachend zog er sie dann in
ein kleines Lokal in einer der unzähligen Straßen, wo er heiße Suppe
und Schnaps für sie alle bestellte. In behaglicher Heiterkeit aß und
trank er reichlich, ließ den Vater bezahlen und begleitete ihn dann
noch zum Postwagen. Dort nahm er aber kein Geld für seine Fahrt, machte
plötzlich ein trauriges Gesicht, zeigte mit der Hand, sich
niederbeugend, die Größe eines kleinen Kindes an, umarmte die beiden
Reisenden wieder, sprach dann mit dem Postillon, worauf auch der die
Reisenden aufmerksam mit trauriger, teilnahmsvoller Miene betrachtete
und mehrmals nickte. Dann lachte der junge Bursche plötzlich wieder,
winkte mit der Hand und lief schnell davon.
    Sie fuhren nun am hellen Tag den Weg zurück auf das Gebirge
und lange Zeit auf seinem Höhenrücken dahin. Gegen Abend wendeten sie
wieder in eine Ebene, doch so, daß Gebirge und Stadt ihnen im Rücken
lagen. Sie streiften in großen Abständen kleine Dörfer mit niedrigen
Hütten, deren Dächer bis zur Erde reichten. Doch überall standen
Kirchen, läuteten die Glocken und beteten die Menschen zu jeder Stunde,
an jedem Ort, wo die Mahnung der Glocken sie erreichte. Sie reisten
durch fremdes Land, dessen Menschen, dessen Sprache sie nicht kannten.
Aber ihre Geschichte, das erschütternde Unternehmen des Vaters, der,
sein verlorenes Kind zu suchen, aus einem fernen Lande kam, ebnete ihre
Wege, sorgte für ihr Wohl. Überall empfingen sie die Menschen mit
weichen Blicken und hilfespendenden Händen. In der letzten Station vor
ihrem Ziel, einem kleinen Marktflecken, in dem sie übernachten mußten,
holten die Wirtsleute einen alten Soldaten, einen Krüppel, herbei, der
etwas Deutsch sprechen konnte, und er mußte den im Wirtszimmer
Versammelten die Geschichte der kleinen Anna B. übermitteln.
    »Ihr sucht Euer Kind?« fing der Alte an.
    »Ja«, antwortete der Vater mit weicher Stimme, deren Klang auf
dieser Reise sich geändert hatte.
    »Wieviel habt Ihr Kinder?«
    »Ich habe zwei Söhne und eine Tochter.«
    »Hört ihr, es ist das einzige Töchterlein,« erklärte der Alte
den Zuhörern. Alle seufzten, die Frauen hatten schnell Tränen in den
Augen.
    »Man hat es dir geraubt?« fragte der Alte wieder.
    »Wir suchen es seit einem halben Jahr.«
    »Die Zigeuner haben es geraubt«, sagte Karl plötzlich dazwischen.
    Der Alte sah den Knaben an. »Nein, nicht Zigeuner, böse
Menschen,« sagte er dann. »Hört ihr,« sagte er wieder zu den anderen,
»böse Menschen, Gott verzeihe ihnen, haben sein Töchterlein geraubt,
sie suchen es seit einem halben Jahr!«
    Die Frauen jammerten auf und rangen die Hände.
    »Haben sie es umgebracht?« fragte bleich und zitternd eine
junge Frau, hoch in gesegneten Umständen.
    »Hörst du nicht, daß sie es suchen?« sagte der Alte streng.
»Wie kann ein Mensch so böse sein und ein kleines Kind umbringen? Wo
hast du solche böse Gedanken her?«
    »Er kann sich vor der Strafe fürchten, der es geraubt hat«,
sagte die junge Frau schüchtern.
    »Gott wird verzeihen,« sagte der Alte, »Gott wird verzeihen,«
wandte er sich wieder zu dem Vater, »Euer Kind wird leben, und Ihr
werdet es finden.«
    »Ich glaubte, daß es tot sei«, sagte der Vater.
    »Nein, nein, wie sollte es tot

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