Das verlorene Kind
es
geantwortet »Anna«, auf die Frage nach seinen Eltern habe es zu weinen
begonnen.
Sie waren inzwischen zum Hause des Professors gekommen, zwei
Treppen emporgestiegen und in einen dunkeln, von einer brennenden Lampe
erhellten Korridor eingetreten. Hier senkte der Professor seine Stimme
und flüsterte dem Vater zu: »Ich begreife ja, daß Sie Ihr Kind so bald
als möglich sehen möchten, aber gerade heute ist das Fieber endlich
gesunken, und es schläft schon seit dem Morgen. Könnten Sie das Opfer
bringen und bis morgen warten? Oder aber, Sie dürften nur leise an sein
Bettchen treten und es nicht wecken.«
»Ich will warten«, sagte der Vater.
»Das ist gut, das ist echte Vaterliebe. Sie wohnen natürlich
bei uns, Sie schlafen die Nacht in seiner Nähe, und morgen früh können
Sie gleich zu ihm. Meine Frau und ich, wir lieben den kleinen Findling
sehr, wir werden sehr traurig sein, wenn er wieder von uns geht. Seien
Sie willkommen, Landsmann, in meinem Heim!« schloß er, und schüttelte
dem Vater nochmals die Hand und reichte sie jetzt auch dem Sohne. Jetzt
kam auch die Frau herbei, klein, grau und verblüht, aber mit warmen,
guten Augen. Sie sah den Vater lange an und drückte voll Inbrunst seine
Hand. Auch sie erzählte im Flüsterton, daß das Kind fest schlafe, hieß
endlich die Reisenden Gepäck und Überkleider ablegen, und auf den
Zehenspitzen gingen nun alle in das warme, behaglich eingerichtete
Wohnzimmer. Eine alte Magd kam und deckte den Tisch. Alles Gehen,
Türenschließen, das Auflegen des Geschirres geschah mit einer
zärtlichen Sorgfalt, kein Geräusch zu verursachen, um des schlafenden
Kindes willen. Sie setzten sich zu Tisch, aßen in glücklichem
Schweigen, nur mit Blicken und Lächeln und gedämpften Worten zueinander
sprechend. Dann wurden die Gäste in ein geräumiges, durchheiztes Zimmer
geführt. »Da drüben schläft es«, sagte der Professor noch leise und
zeigte auf die Wand, an der die beiden Betten standen. Als sie allein
waren, zog der Vater den Sohn an die Brust: »Freue dich, morgen werden
wir die Schwester wiedersehen«, sagte er, denn jetzt glaubte er es
selbst.
»Ich freue mich sehr!« sagte der Knabe mit leuchtenden Augen.
Sie legten sich nieder, und der Vater horchte an der Wand auf
ein Geräusch, den leisen Ton einer Stimme von drüben. Aber es blieb
alles ruhig, eine friedliche Stille lag über der ganzen Wohnung, und
beide, Vater und Sohn, schliefen bald tief und traumlos ein.
Sie erwachten erst, als es schon völlig Tag war und die alte
Magd in ihrem Zimmer vor dem Ofen kniete und Feuer anzündete. Es war
der zehnte Dezember, ein heller, klarer Wintertag, der Schnee funkelte
auf den Dächern der Häuser, der Himmel war mit einem zarten
mattgoldenen Schein überzogen, und beide, Schnee und Himmel, warfen ein
starkes freudiges Licht in die Fenster der Wohnungen. Von glücklichen
Empfindungen erregt, kleideten Vater und Sohn sich eilig an und
warteten mit Ungeduld darauf, zu dem Kinde geführt zu werden. Die
Professorin trat auch bald ein, hatte ein strahlendes, glückliches
Lächeln auf dem früh gealterten Gesicht und winkte ihnen, ihr zu
folgen. Sie traten nun in ein schönes, großes, durch viele Fenster
blendend erleuchtetes Zimmer, dessen Wände mit zarter, grüner Seide
bespannt waren, in dem Möbel aus lichtgelbem Holz standen, Spiegel und
Teppiche sich befanden. In der Mitte stand ein kleines, weißes
Kinderbett, das über und über bemalt war mit kleinen Engelköpfen, die
aus rosa gefärbten zarten Wolken hervorblickten, und das mit einem
Himmel aus weißen und rosafarbenen Schleiern überdeckt war. Es war das
Bettchen des einzigen Kindes der Familie, eines Sohnes, der als
Jüngling gestorben war. In ihm saß das Kind, aufrecht, vom Licht und
rosa Schein der Schleier übergössen, und spielte mit einer Puppe. Als
die drei eintraten, erhob es das Köpfchen, sah sie an und lächelte. Der
Vater griff nach der Hand des Sohnes, denn aller Halt verließ ihn. Er
blieb an der Tür lehnen, fassungslos. Dies mußte sein Kind sein!
Langsam ging die Professorin zu dem Kind hin. »Wer ist das?«
fragte sie zärtlich und deutete mit der Hand auf Christian.
»Papa«, sagte das Kind leise, sah ihn an, streckte plötzlich
seine Ärmchen aus und hielt ihm die Puppe entgegen. Der Vater schleppte
sich mühsam näher, zögernd streckte er die Hand aus, um die Puppe zu
ergreifen.
»Schenken«, sagte das Kind und lachte
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