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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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nachmittags, kurz nach Eintritt der Dunkelheit, am Ziele an. Die Stadt
war nicht so groß und zauberhaft prächtig wie jene, die sie am Rande
des Gebirges gesehen hatten. Aber Lichter leuchteten und Menschen
strömten auch hier, Kirchen mit Türmen waren auch hier ohne Zahl,
Glocken klangen fast den ganzen Tag, und überall, herrschend auf hohen
Säulen über den Plätzen oder angeschmiegt an die Portale großer Häuser
und Paläste, aus dem Innern der stets geöffneten Kirchen schimmernd,
grüßte sie das Bildnis Gottes, der als Mensch gekreuzigte Sohn, und mit
göttlichem Lächeln und segnenden Händen die himmlische Mutter; zu ihren
Füßen brannte das kleine rote ewige Licht, dessen sanfter Schein empor
zum Antlitz strahlte. Ihre Altäre waren stets geschmückt, unaufhörlich
schwebten ihre Namen auf den Lippen der gläubigen Seelen, und mit
tiefem Begreifen verstand der Vater, warum die Menschen ihnen ihre
Bitten darbrachten, die Fürsprecher anflehten, sie emporzutragen zum
ewig verhüllten Angesicht Gottes, denn kein Mensch, lebte, der es sah.
Vor der kleinen Kapelle einer Madonna stand er lange, sah auf die
Menschen, die kamen, niederknieten und nach dem Gebet sich erhoben,
Friede oder doch wenigstens Ruhe auf den Gesichtern. Da er nicht gleich
ihnen knien und beten konnte, öffnete er weit die stets verhangenen
Augen und nahm mit hingebendem Blick das sanfte Lächeln, die
segenspendenden Gebärden der Heiligen in sich auf.
    Auf der Polizeibehörde zeigte er Paß und sein Ausweisschreiben
vor. Man hieß ihn freundlich warten und schickte einen Boten nach dem
Lehrer, bei dem das aufgefundene Kind weilte. Nach einer halben Stunde
kam dieser und begrüßte den Vater sofort mit großer Wärme und
Herzlichkeit. Er war Professor und seit fünfzehn Jahren Lehrer der
deutschen Sprache und Philosophie. Er war ein älterer Mann von kleiner,
zarter Gestalt, hatte graumeliertes Haar, und seine gleichzeitig
lebhaften und träumerischen blauen Augen konnte man nur schwer fassen
hinter der goldenen, ungewöhnlich blank geputzten Brille, die
fortwährend aufblitzte, blendete und spiegelte, da der Professor beim
Sprechen unaufhörlich den Kopf bewegte. Er zog den Vater mit sich, sah
fürs erste den Sohn, der hinter ihnen drein ging, gar nicht an und
begann in einem fließenden Bericht dem Vater zu erzählen, wie er das
Kind gefunden habe. Er habe es, von Schmutz und Ungeziefer starrend,
einem deutschsprechenden Bettelweib abgenommen, ursprünglich nur, um es
einen Tag lang zu füttern und zu pflegen, dann habe ihn seine Frau beim
Baden auf des Kindes Schönheit aufmerksam gemacht, auf sein lockiges,
blondes Haar, auf seine entzückende und wohlerzogene Art beim Essen und
Spielen, und wie es stets »bitte« und »danke« sage, und es sei
offensichtlich gewesen, wie unter der Pflege und Sauberkeit das Kind
sich mehr und mehr wohlgefühlt hätte, es sei so heiter und gesprächig
geworden, und ihm sowohl wie der Frau sei der Verdacht aufgestiegen,
daß das Kind in einer besseren Umgebung als der von Landstreichern
aufgewachsen sein müsse. Dann habe er sich mitten in einem Vortrag über
den Kantischen kategorischen Imperativ an den Fall Anna B.
erinnert. Er habe noch in der Schulstunde nach Hause um die deutschen
Zeitungen geschickt, aus denen ihm der Verlauf dieses Prozesses bekannt
gewesen sei, habe dann das Bild und die Beschreibung der kleinen
Anna B. mit dem Kind verglichen und sei nun zu der festen
Überzeugung gelangt, daß er das verschleppte Kind aufgefunden habe. Er
habe daraufhin den Behörden Mitteilung gemacht, die, wie sich ja nun
ergäbe, den Vater sofort benachrichtigt hätten und seit der ganzen Zeit
die des Kindesraubes verdächtige Vagabundin suchten. Denn das sei der
deutlichste Beweis: die angebliche Mutter sei wohl am ersten Abend noch
einmal gekommen und habe das Kind holen wollen, habe aber auf
verschiedene Fragen nach dem Vater des Kindes, nach dem Ort seiner
Geburt, nach dem genauen Alter keine sichere Auskunft geben können, und
als man ihr vorgeschlagen habe, das Kind noch einige Tage dazulassen,
sei sie schnell damit einverstanden gewesen und habe sich seit dem Tage
nicht wieder blicken lassen. Inzwischen sei nun das Kind leider, trotz
größter Pflege, erkrankt, der Arzt habe Lungenentzündung festgestellt.
Es sei aber von einer wahrhaft rührenden Geduld und Liebenswürdigkeit
während seines Leidens. Auf die Frage, wie es heiße, habe

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