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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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ihn an.
    Langsam beugte sich der Vater nieder, dicht über das Köpfchen
des Kindes. Sein blondes, wie duftiger Flaum gekräuseltes Haar schwebte
nahe vor seinen Augen, aber er wagte nicht, es zu berühren oder zu
küssen.
    Die Professorin, Tränen in den Augen, fragte: »Ist das dein
lieber Papa?«
    Das Kind nickte, mit seligen, leuchtenden Augen, und streckte
wieder die Ärmchen nach ihm aus.
    »Und wo ist deine Mama?« fragte die Professorin. Sofort verzog
sich das lächelnde Gesicht des Kindes zum Weinen, es begann heftig zu
schluchzen, zu jammern und rief unaufhörlich Mama, ein böser Husten
schüttelte den kleinen Körper, und als es endlich wieder beruhigt war,
schlief es vor Schwäche sofort ein.
    Der Vater wich nicht mehr von seinem Bettchen. Unverwandt
blickte er auf das Gesicht des Kindes nieder. Im Schlafe sah es blaß,
verfallen und mager aus. Bläuliche Schatten lagen um die geschlossenen
Augen, der kleine Mund war schmal, allzufest geschlossen lagen die
Lippen aufeinander, und die kleinen Händchen ruhten abgezehrt, wächsern
auf der rosigen Decke des Bettchens. Aber voll rührenden Zaubers waren
sein schräg zur Schulter geneigtes Köpfchen, die reine Kinderstirn, die
lichten Locken seines Haares.
    Nun trat auch der Knabe an das Bettchen.
    »Das ist die Anna,« sagte er flüsternd, »in welchem schönen
Bett sie liegt! Nehmen wir sie nun mit nach Hause?«
    Der Vater nickte ihm zu. Sie waren beide allein mit dem Kinde.
Wieder beugte Christian sich nieder, neigte sich den leise hauchenden
Atemzügen des schlafenden Kindes entgegen. Ganz schwer und angefüllt
mit aufgewecktem, aufgerührtem, menschlichem Schmerz strömte sein Blut
zum Herzen, weitete es auf, Schmerz strömte zurück von seinem Herzen
bis in die starken Glieder seines Körpers, umrauschte seine Gedanken,
und endlich erzitterten seine Knie, weinte sein Herz und preßte mit
Gewalt die Tränen in die heißen Augen. Sie fielen langsam nieder und
verrannen in dem weichgelockten Haar des Kindes. Doch als er, nun ganz
bezwungen, nun demütig glaubend, nun in neuer Hingabe liebend, langsam
niederkniete, sein Gesicht ganz nahe dem des Kindes brachte, mit
geöffneten Lippen seines Kindes Atem in sich aufnehmen wollte, da
spürte er, je näher und näher die Vereinigung kam, mehr und mehr sich
scheidend, den Duft eines fremden Blutes, den Atem eines fremden
Schicksals, nicht den geheimnisvollen, mächtigen Widerhall des eigenen
Blutes, nicht den göttlichen Spiegel der eigenen Seele, nicht das
Fleisch und Blut gewordene Siegel der tiefsten, unsichtbaren
Vereinigung, nicht die Krönung seiner Liebe.
    Langsam bog er sich zurück, erhob sich wieder, erwartete, am
Bett des Kindes sitzend, sein Erwachen.
    Nach einer Weile schlug das Kind die Augen auf, sah den Vater
an und lächelte. »Hast du die Puppe?« fragte es vertraut. Der Vater
reichte sie ihm. Das Kind haschte nach seiner Hand, und als es seinen
großen Siegelring sah, jauchzte es vor Freude. Schelmisch schmiegte es
sein Gesichtchen in des Vaters Hand, mit seinen kleinen Fingerchen
begann es, den Ring von seinem Finger abzuziehen. Von Erinnerung
gepackt, begann der Vater es zu necken, ballte seine Hand zusammen und
öffnete sie wieder, während das Kind mit jubelndem Lachen nach seinem
Finger haschte, endlich doch den Ring erhielt und ihn strahlend über
die zwei letzten Fingerchen seiner rechten kleinen Hand zog: es war die
genaue Wiederholung jenes Spieles in der Nacht nach dem Geburtstag, vor
dem Tage des Entschwindens, das Vater und Kind miteinander gespielt
hatten. Der Vater sah wieder das heimatliche Zimmer vor sich, das Bett
des Kindes, die Frau, die strahlend in Glück das Kind ihm reichte. Er
erinnerte sich der Narbe an der linken, kleinen Brust, die er nie
gesehen hatte, weil die Frau mit errötendem Gesicht die Hand über das
entblößte Kind gelegt hatte. Und in der Erinnerung daran, wagte er auch
jetzt nicht, das Hemdchen des Kindes zu heben, um nach diesem
Erkennungszeichen zu suchen. Er rief die Professorin und fragte, doch
sie hatte keinerlei Narben beim Baden des Kindes an seinem Körper
bemerkt. Sofort depeschierte er nach Hause, ob die Narbe in der letzten
Zeit noch zu sehen gewesen sei, und die Antwort, die nach drei Tagen
kam, lautete: »Noch am letzten Tag.« Nun entkleidete die Professorin
das Kind vor seinen Augen. Erschüttert sah er seinen kleinen,
abgemagerten Mädchenleib, in Rührung dachte er an seine Frau.

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