Das verlorene Kind
ihn umgebenden grenzenlosen Weite der Natur, Menschen, die er
nicht kannte und die ihn nicht kannten. Er fuhr mit Stolz, mit
übermütigem Hochmut seine Wagen die Straßen entlang, ließ die Pferde
Galopp laufen, wenn der Wagen leer war; stehend auf dem Bock, hielt er
die Zügel lose, blickte weder nach rechts noch nach links, fühlte aber
von allen Seiten Blicke auf sich gerichtet. Kam er dann mit dem
beladenen Wagen zurück, schritt er lässig nebenher und pfiff eine
sanfte Melodie. Die Leute im Ort beachteten ihn wohl, er gefiel allen,
er war sauber, hübsch und fleißig. Die Mädchen kicherten und erröteten,
stießen sich gegenseitig an, wenn sie ihn sahen, die Frauen lächelten
von der Arbeit aufblickend ihm zu, und auch die Männer waren
wohlwollend gegen ihn, wenn sie in irgendeiner Weise mit ihm
zusammenkamen.
Und doch hatte er keinen Freund, nie sah man ihn in
Gesellschaft anderer Burschen in langer Reihe hinter der ebenso langen
Reihe der Mädchen die Dorfstraße durchziehen, nie sah man ihn am
Brunnen oder an den Sonntagen in der kleinen Wirtsstube.
Schrecken hatte ihn aber ergriffen, als ihm sein Bett in der
Knechtskammer angewiesen wurde, in der er mit drei anderen Knechten
schlafen sollte. Er stand regungslos in der Dunkelheit vor seinem Bett,
knöpfte und nestelte an seinen Kleidern herum, schwankte zwischen
Gehorsam und Widerwillen, zögerte und wartete mit List, bis die anderen
Knechte tief und schnarchend schliefen, dann schlich er hinaus in den
Pferdestall und legte sich da auf einem Bündel Heu schlafen. Das tat er
Nacht für Nacht, bis es die Frau einmal merkte und lachend es dem Mann
erzählte. Die Frau hatte Fritz sehr gern, er war fleißig und
bereitwillig für alle kleinen Dienste, die sie oft in Küche und Haus
von ihm benötigte. War etwas vergessen worden zu holen oder zu
besorgen, lief Fritz schnell und heimlich, um es in Ordnung zu bringen.
Er half das Geschirr waschen und die Wäsche spülen in dem kleinen Fluß,
der den Ort durchzog, und sang den Frauen dazu mit seiner schönen
Stimme Kirchenlieder vor. Auch konnte er jetzt manchmal in Gemeinschaft
der andern lachen, nicht das alte, unheimliche, lautlos zischende
Lachen, sondern ein neues, helles, mädchenhaftes Kichern.
Heimweh hatte er nicht, kaum Erinnerung an den Ort, wo er
bisher gelebt hatte. An seine Mutter dachte er nur von Zeit zu Zeit,
wenn er seinen Lohn unschlüssig in den Händen hielt, den er ihr sonst
immer gebracht hatte. Er hatte für das Geld, da er ohne Bedürfnisse
war, keine Verwendung, aber auch keinen Platz, es aufzubewahren, da er
es in der Kammer, in der er doch nicht schlief, nicht lassen mochte. Er
nahm es also mit in den Pferdestall und vergrub es da in einer Ecke in
der Erde. Aber auch dieses Graben, Verbergen und Zudecken weckte nichts
in ihm auf. Keine Erinnerung, kein Traum, kein Verlangen quälte ihn.
Manchmal fand er morgens beim Aufwachen seine Hände tief unten am Leib
liegen, wechselseitig die Nägel in die Handflächen gekrallt und Leib
und Hände mit Halmen des schlafdurchwühlten Strohes, auf dem er lag,
sonderbar verstrickt und umknüpft. Dann lachte er vor sich hin und sah
zu, wie sich Hände, Stroh und Leib wieder voneinander lösten.
Er war stets als erster am Brunnen, um sich zu waschen.
Mädchen, glühend in der Hitze des Sommers und ihrer jungen Jahre,
lockten ihn herausfordernd. Doch er verzog nur spöttisch den Mund, die
Hände in die Hosentaschen vergrabend, stieß er sie mit dem Ellbogen von
sich, wenn sie sich genähert hatten, und ging pfeifend davon. So galt
er als ein besonders braver Junge. In Frieden, in Ordnung und
Sicherheit war er in die Welt gestellt, und in Sicherheit und Frieden
war die Welt um ihn gestellt; alles schien gut. Doch er hatte einen
Feind. Dem Blick eines bösen Menschen leuchtete erkennbar das Zeichen
hinter seiner Stirn, ein Böser erkannte das Antlitz des Teufels unter
den Zügen des schönen, engelhaft gebildeten Gesichtes.
Sein neuer Herr war es, der ihn erkannte. Mandelkow war ein
Mann von fünfzig Jahren, klein, mager, die rechte Schulter schief
verwachsen, das Gesicht völlig verdeckt durch einen schwarzen, seltsam
langhaarigen Bart, der von der Schläfe her schon einsetzte und Wangen,
Mund und Kinn verdeckte. Deutlich zu sehen waren nur seine kleinen,
grauen Augen, die scharf und stechend blickten. Er sprach viel und mit
einer dünnen, hohen Stimme, die sich aus seiner schmalen,
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