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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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zusammengedrückten Brust mühsam hervorpreßte. Er arbeitete nie und
hatte feine, kleine Hände. Als Kind hatte er städtische Schulen besucht
und war von ungewöhnlicher Klugheit in allen Angelegenheiten
geschäftlicher oder amtlicher Art. Man nannte ihn einen schlauen Fuchs
oder den »Advokaten«, in einem großen Umkreise von Ortschaften war sein
Rat gesucht. Dieses Ratgeben und die Beschäftigung mit den
Angelegenheiten anderer war seine Leidenschaft, und obwohl er geizig
und habsüchtig war, kümmerte er sich kaum um seine eigene Wirtschaft
und seine Geschäfte und schalt nur die Frau, wenn nicht genügend Geld
erspart wurde. Er hatte als jüngerer Sohn das Anwesen geerbt, mit
Wiesen, Feld und jenem Stück Heideland, auf dem er als erster mit
Gewinn Torf zu stechen begann. Er hatte lange allein gelebt, erst spät
seine Wirtschafterin geheiratet und hatte keine Kinder. Er saß Abend
für Abend im Wirtshaus, er trank nicht viel, las Zeitungen und redete
in langen Vorträgen zu den Bauern, die um ihn geschart saßen und
zuhörten. Er fuhr oft in die Kreisstadt und kannte alle Beamten der
Behörde und der Gerichte, wußte eines jeden Laufbahn und Geschichte.
Denn sein eigenes Leben wagte er nicht mehr zu leben. In seiner engen,
verkrüppelten Brust hütete er ein Geheimnis, eine furchtbare
Erinnerung, vor der er ständig auf der Flucht war. Er hatte einen
einzigen Bruder gehabt, einen großen, starken, gütigen Menschen, der
sich seiner, des Schwachen, als Kind schon Verwaisten, väterlich
sorgend angenommen hatte. Und doch hatte er, erwachsen unter des
Bruders Obhut, ihn mit verwundetem, schwarz aufgeschwollenem Arm,
fiebernd und hilflos in der Kammer eingeschlossen, als er den Doktor
holen sollte; es war eilig gewesen, er aber war langsam und gemächlich
drei Stunden zu Fuß gewandert, um die Pferde zur Erntezeit zu schonen,
so sagte er vor sich selbst. Während des Wanderns hatte er an die
Erbschaft gedacht, an Macht und Geld. Er hatte die Nacht vergehen
lassen und war mit dem Doktor erst am Morgen zurückgefahren. Sie hatten
den Bruder tot hinter der zugesperrten Kammertür gefunden, mit
verkrampfter Gestalt und blau verquollenem Gesicht. Sie hätten nichts
gehört, nur am Abend noch ein Stöhnen, sagten die Mägde. Der Arzt
stellte den Totenschein aus. Er sagte, es sei Brand zu der Wunde
gekommen. Gestern abend noch wäre es die letzte Zeit zum Retten
gewesen. Er, der jüngere, schwächere Bruder, hatte alles geerbt, doch
keine Frucht erquickte ihn, kein Lohn ward ihm zur Freude, wie Luft war
ihm das Leben, mühsam ein- und ausgeatmet mit seiner engen Brust. Um
sich selbst zu entgehen, belauerte er die anderen Menschen. Wenn er
Unrechtes aufspüren konnte, sorgte er für Gerechtigkeit, Strafe, Sühne.
Wenn er Fritz sah, seinen Eifer bei der Arbeit, sein schönes volles,
sanftes und doch immer abgewandtes Gesicht, wenn er sein Lachen, Singen
und Pfeifen hörte, lächelte er kalt und spöttisch, unsichtbar unter
seinem Bart, und seine kleinen Augen kniffen sich zusammen. Als die
Frau ihm erzählte, daß Fritz heimlich im Pferdestall schlafe, schlug er
vor Freude mit der Faust auf den Tisch. Er kannte den Fall
Anna B. genau, es hatte ihn darum gereizt, Fritz zu sich zu
nehmen; nun merkte er, was noch niemand bisher beobachtet hatte, daß
Fritz nie von diesem Geschehnis sprach und, wenn in seinem Beisein
davon gesprochen wurde, gleichmütig und still zuhörte, statt zu
prahlen, daß er alles in nächster Nähe erlebt habe, wie es wohl bei
einem jungen Burschen zu verstehen gewesen wäre. Wenn er sich von Fritz
über Land fahren ließ und dieser vor ihm auf dem Kutschbock saß,
bestrich er mit lauernden Blicken seinen jungen, starken Rücken, der im
Takt auf und nieder federte, seinen vollen Nacken, der bis zu den
blonden Haarspitzen hinein gerötet war, seine Ohren, die, klein und
schön geformt, doch ein wenig abstehend, zu beiden Seiten seiner Mütze
rosig leuchteten. Einmal war er mitten in der Nacht aufgestanden und
nach dem Pferdestall geschlichen, hatte dort den schlafenden Jungen
aufgescheucht und ihm das Nächtigen außerhalb der Kammer verboten. Er
beobachtete dann zufrieden, mit welcher Vorsicht und List Fritz die
Schlafstätte im Stall doch wieder aufsuchte, wiederholte aber das
Verbot nicht.
    Im Juni, zur selben Zeit, als in Treuen die Leiche aufgefunden
wurde, saß der Schultheiß mit seiner Frau und dem Gesinde beim
Abendessen. Im

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