Das Verlorene Labyrinth
gesagt, wie sie heißt?«
»Nein, und ich habe auch nicht danach gefragt, da sie einen Brief von Harif bei sich hatte. Ich gab ihr Brot, Käse, Obst für die Reise mit, und sie ging wieder.«
Inzwischen waren sie bis zur Haustür gegangen.
»Ich lasse Euch nicht gern hier zurück«, sagte Alaïs , die plötzlich Angst um ihn hatte.
Simeon lächelte. »Sorgt Euch nicht um mich, Kind. Esther wird mir die Dinge einpacken, die ich mit nach Carcassona nehmen will. Ich werde namenlos in der Menge mitreisen. Das wird für uns alle sicherer sein.«
Pelletier nickte. »Das jüdische Viertel liegt direkt am Fluss, nördlich von Carcassona, nicht weit vom Vorort Sant-Vicens. Schicke uns Nachricht, wenn du angekommen bist.«
»Das werde ich.«
Die beiden Männer umarmten einander, dann trat Pelletier hinaus auf die jetzt von Menschen wimmelnde Straße. Alaïs wollte ihm folgen, doch Simeon hielt sie am Arm fest.
»Ihr habt großen Mut bewiesen, Alaïs . Ihr seid Eurem Vater treu ergeben. Und der Noublesso auch. Doch habt ein Auge auf ihn. Sein Temperament kann ihn in die Irre leiten, und es liegen schwere Zeiten, schwere Entscheidungen vor uns.«
Alaïs warf einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme, damit ihr Vater sie nicht hören konnte. »Worum handelte es sich bei dem zweiten Buch, das diese Frau nach Carcassona mitgenommen hat? Das Buch, das noch nicht wiedergefunden wurde?«
»Es war das Buch der Arzneien«, antwortete er. »Eine Auflistung von Kräutern und Pflanzen. Eurem Vater wurde das Buch der Wörter anvertraut und mir das Buch der Zahlen.« Jedem gemäß seinen Fähigkeiten.
»Ich denke, das verrät Euch, was Ihr wissen wolltet?«, sagte Simeon und sah sie vielsagend unter seinen buschigen Augenbrauen hinweg an. »Oder bestätigt vielleicht eine Vermutung?« Sie lächelte. »Benleu.« Vielleicht.
Alaïs gab ihm einen Kuss und lief dann ihrem Vater nach. Wegzehrung für die Reise. Und vielleicht auch ein poliertes Holzbrett.
Alaïs beschloss, den Gedanken vorläufig für sich zu behalten, bis sie ihrer Sache sicher war, obwohl sie nun schon zu wissen glaubte, wo das Buch zu finden war. All die zahllosen Verbindungsfäden, die ihrer aller Leben durchzogen wie ein Spinnennetz, waren ihr plötzlich klar. All die winzigen Hinweise und Anhaltspunkte, die man übersah, weil man nicht darauf achtete.
Kapitel 29
A ls sie durch die Stadt zurückhasteten, war nicht zu übersehen, dass ein Exodus begonnen hatte.
Juden und Sarazenen strebten zum Haupttor, manche zu Fuß, manche mit Karren, auf denen sich ihre Habe türmte, Bücher, Karten, Möbel. Geldverleiher führten gesattelte Pferde, die Körbe, Truhen, Waagen und Pergamentrollen trugen. Alaïs bemerkte auch ein paar christliche Familien in der Menschenmenge.
Der Palasthof des Suzeräns leuchtete weiß in der Morgensonne. Als sie durch das Tor kamen, sah Alaïs an der Miene ihres Vaters, wie erleichtert er war, dass die Versammlung des Rates noch nicht zu Ende war.
»Weiß sonst noch jemand, dass du hier bist?«
Alaïs blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen, denn erst jetzt merkte sie, dass sie noch gar nicht an Guilhem gedacht hatte. »Nein. Ich habe mich gleich auf den Weg zu Euch gemacht.« Der freudige Ausdruck, der kurz über das Gesicht ihres Vaters huschte, ärgerte sie.
Er nickte. »Warte hier. Ich werde Vicomte Trencavel von deiner Anwesenheit unterrichten und seine Erlaubnis erbitten, dass du mit uns reiten darfst. Auch dein Gemahl sollte es erfahren.« Alaïs sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit des Hauses verschwand. Dann wandte sie sich um und ließ den Blick über den Hof schweifen. Tiere dösten, ungerührt von den Problemen der Menschen, ausgestreckt im Schatten, ihr Fell flach gegen die kühlen, hellen Mauern gedrückt. Trotz ihrer Erlebnisse und trotz der Geschichten, die Amiel de Coursan ihr erzählt hatte, fiel es ihr hier an diesem ruhigen, friedlichen Ort schwer zu glauben, dass die Gefahr so bedrohlich nahe war, wie alle sagten. Hinter ihr wurden die Türen aufgestoßen, und eine Schar von Männern kam die Stufen herabgeeilt und strömte über den Hof. Alaïs drückte sich gegen eine Säule, um nicht mitgerissen zu werden.
Plötzlich erschallten überall auf dem Hof Rufe und Kommandos, Befehle, die kaum erteilt sogleich befolgt wurden, und écuyers holten im Laufschritt die Pferde ihrer Herren. Im Nu verwandelte sich der Palast vom Verwaltungssitz in das Herz einer Garnison.
In dem Tohuwabohu hörte Alaïs
Weitere Kostenlose Bücher