Das Verlorene Labyrinth
alle Bedingungen ausgehandelt. Narbonne würde verschont bleiben. Noch nie war eine Kriegskasse mit so leichter Hand errungen worden.
Falls der Abt und seine Legaten über die Schnelligkeit verblüfft waren, mit der die Narbonnais auf ihre Geburtsrechte verzichteten, so ließen sie es sich nicht anmerken. Falls die Männer, die unter den zinnoberroten Farben des Comte von Toulouse marschierten, sich wegen des mangelnden Mutes ihrer Landsleute schämten, so sprachen sie es nicht aus.
Es erging Befehl, die Marschrichtung zu ändern. Sie würden vor Narbonne übernachten und dann am Morgen Richtung Olonzac weiterziehen. Danach waren es nur noch wenige Tagesmärsche bis Carcassonne selbst.
Am folgenden Tag ergab sich das befestigte Bergstädtchen Azil- le, indem es den Invasoren weit seine Tore öffnete. Mehrere Familien, die als Häretiker denunziert worden waren, wurden auf dem Marktplatz in der Mitte des Ortes auf einem rasch errichteten Scheiterhaufen verbrannt. Der schwarze Rauch wand sich durch die engen, steilen Gassen und glitt über die dicken Schutzmauern des Städtchens hinaus in das weite Land.
Die kleinen Châteaux und Dörfer ergaben sich der Reihe nach ohne einen einzigen Schwerthieb. Der Nachbarort La Redorte folgte dem Beispiel Azilles genauso wie die meisten Weiler dazwischen. Andere places fortes wurden verlassen vorgefunden. Das Kreuzheer bediente sich nach Herzenslust aus den prallen Kornkammern und gut gefüllten Obstlagern und zog weiter. Der spärliche Widerstand, auf den das Heer traf, wurde brutal und rasch niedergeschlagen. Der furchterregende Ruf des Heeres verbreitete sich unaufhaltsam wie ein böser Schatten, der sich dunkel vor ihnen ausstreckte. Stück für Stück wurde das alte Band zwischen den Menschen des östlichen Languedoc und der Trencavel-Dynastie zerrissen.
Am Tag vor dem Fest von Saint-Nazaire, fünf Tage nach dem Sieg über Béziers, erreichte die Vorhut zwei Tage vor dem Hauptheer Trèbes.
Im Verlauf des Nachmittags wurde die Luft immer schwüler. Das diesige Licht wich einem bedrohlichen Grau. Donner grollte am Himmel, gefolgt von einem heftigen Blitzschlag. Als die Kreuzfahrer durch die unbewachten und offenen Tore der Stadt ritten, fielen die ersten Regentropfen.
Die Straßen waren schaurig verlassen. Alle Bewohner waren verschwunden, hatten sich wie Gespenster oder Geister davongestohlen.
Der endlos weite Himmel war lilaschwarz gefärbt, und am Horizont jagten zerfetzte Wolken dahin. Als das Unwetter losbrach und über Tiefland fegte, das die Stadt umgab, krachte und toste der Donner über ihren Köpfen, als würde das Firmament selbst zerbersten.
Die Pferde tänzelten unsicher auf dem nassen Pflaster. Jede Gasse, jeder Durchgang verwandelte sich in einen Bach. Der Regen prasselte erbarmungslos auf Schilde und Helme. Ratten huschten zu den Kirchenstufen, suchten Rettung vor den rauschenden Sturzbächen. Der Turm wurde vom Blitz getroffen, fing aber nicht Feuer.
Die Soldaten aus dem Norden fielen auf die Knie, bekreuzigten sich und beteten zu Gott, er möge sie verschonen. Das flache Land um Chartres, die Felder von Burgund und das Waldland der Champagne kannten solche Gewalten nicht.
So schnell wie es gekommen war, zog das Unwetter wieder weiter, eine grollende Bestie. Die Luft wurde angenehm frisch. Die Kreuzfahrer hörten, wie das Kloster in der Nähe zum Dank für seine Erlösung die Glocken läutete. Sie nahmen das als Zeichen dafür, dass das Schlimmste überstanden war, und machten sich an die Arbeit. Die Knappen suchten einen sicheren Weideplatz für die Pferde, Diener packten die Habe ihrer Herren aus und sammelten trockenes Feuerholz.
Allmählich nahm das Lager Gestalt an.
Die Dämmerung brach herein. Der Himmel war ein Mosaik aus Rosa- und Blautönen. Als sich die letzten Reste dahintreibender weißer Wolken verflüchtigten, konnten die Männer aus dem Norden den ersten Blick auf d ie Dächer und Türme von Carcas sonne werfen, das sich unverhofft am Horizont zeigte.
Die Cité schien förmlich aus dem Land herauszuwachsen, eine steinerne Festung am Himmel, die in Erhabenheit auf die Welt der Menschen herabblickte. Nichts von allem, was ihnen erzählt worden war, hatte die Kreuzfahrer auf diesen ersten Anblick der Stadt vorbereitet, die zu erobern sie gekommen waren. Es gab keine Worte, die ihrer Herrlichkeit gerecht wurden.
Sie war prachtvoll, Ehrfurcht gebietend. Uneinnehmbar.
Kapitel 48
Trebes
A ls er wieder zur Besinnung kam, war
Weitere Kostenlose Bücher