Das Verlorene Labyrinth
so tun würde, als verstände sie kein Wort, falls sie von den Wachen angesprochen wurde. »Toi! Paysan. Qu'est-ce que tu portes lä?«
Sie hielt den Kopf gesenkt, widerstand der Versuchung, den Verband um ihren Oberkörper zu berühren.
»Eh, toi!«
Die Pike glitt durch die Luft, und Alaïs machte sich auf einen Hieb gefasst, der aber nicht kam. Stattdessen wurde das Mädchen vor ihr zu Boden gestoßen. Die Kleine nahm rasch ihren Hut und blickte dann verängstigt zu ihrem Peiniger hoch.
»Canhdt.«
»Was hat sie gesagt?«, knurrte der Wachmann. »Ich versteh kein Wort von denen.«
»Chien. Sie hat einen Welpen dabei.«
Ehe sich's einer versah, hatte der Soldat ihr das Hündchen aus den Armen gerissen und mit seinem Spieß durchbohrt. Blut spritzte über das Gewand des Mädchens.
»Allez! Vite.«
Das Mädchen war vor Schreck wie erstarrt. Alaïs half ihr auf die Beine, schob sie sanft weiter und bugsierte sie durchs Tor. Nur mit Mühe konnte sie den Impuls unterdrücken, sich nach Sajhë umzudrehen.
Jetzt sehe ich sie.
Auf dem Hügel vor den Toren waren französische Adelige. Nicht die großen Anführer, die, wie Alaïs vermutete, erst das Ende der Evakuierung abwarte n wollten, bevor sie in Carcas sonne einzogen, sondern Ritter in den Farben von Burgund, Nevers und Chartres.
Am Ende der Reihe und dem Pfad am nächsten saß ein großer, schlanker Mann auf einem mächtigen grauen Hengst. Trotz des langen südlichen Sommers war seine Haut weiß wie Milch. Neben ihm war François. Und daneben sah Alaïs Oriane in ihrem roten Kleid.
Aber nicht Guilhem.
Geh weiter, halt die Augen starr auf den Boden gerichtet.
Sie war ihnen jetzt so nah, dass sie das Leder von Pferdsattel und Zaumzeug riechen konnte. Orianes Blick schien sich in sie hineinzubrennen.
Ein alter Mann, die traurigen Augen voller Schmerz, klopfte ihr auf den Arm. Er brauchte Hilfe den steilen Hang hinab. Alaïs bot ihm ihre Schulter an. Ein unverhoffter Glücksfall. Sie mussten wie ein Großvater mit seinem Enkel wirken, als sie ganz nah an Oriane vorbeiging, ohne erkannt zu werden.
Der Pfad schien kein Ende zu nehmen. Endlich erreichten sie den schattigen Bereich am Fuße des Hangs, wo der Boden eben wurde und der Wald und das Marschland begannen. Alaïs führte ihren Wegbegleiter zu seinem Sohn und seiner Schwiegertochter, dann löste sie sich aus der Menge und tauchte zwischen den Bäumen unter.
Kaum war sie außer Sicht, spuckte sie die Steine aus. Sie rieb sich die Wangen, die ganz verkrampft waren. Dann nahm sie den Hut vom Kopf und fuhr mit den Fingern durch ihr Stoppelhaar. Es fühlte sich an wie feuchtes Stroh und piekste unangenehm im Nacken.
Ein Aufschrei oben am Tor ließ sie aufblicken.
Nein, bitte. Nicht Sajhë.
Ein Soldat hatte den jungen am Genick gepackt. Sie sah, dass Sajhë sich mit Händen und Füßen wehrte. Er hielt etwas in der Hand. Ein kleines Kästchen.
Alaïs blieb das Herz stehen. Sie konnte nicht riskieren, wieder nach oben zu laufen, und war zur Untätigkeit verdammt. Na Couza redete auf den Soldaten ein, der sie so heftig ohrfeigte, dass sie rückwärts in den Staub fiel. Sajhë nutzte die Gelegenheit. Er riss sich los und rannte den Hang hinunter. Sénher Couza half seiner Frau auf die Beine.
Alaïs hielt den Atem an. Einen Moment lang schien es, als würde sich alles zum Guten wenden. Der Soldat hatte das Interesse verloren. Doch dann hörte Alaïs eine Frau rufen. Es war Oriane, die auf Sajhë zeigte und den Wachen befahl, den Jungen wieder einzufangen.
Sie hat ihn erkannt.
Sajhë war zwar nicht Alaïs , aber besser als gar nichts.
Sofort brach Unruhe aus. Zwei von den Wachen verfolgten Sajhë den Hang hinab, aber er war ein guter Läufer, sicher auf den Beinen und schnell, und die Männer mit ihren schweren Waffen und Rüstungen konnten es nicht mit dem Elfjährigen aufnehmen. Lautlos feuerte Alaïs ihn an, sah ihn Haken schlagen und über die unwegsamen Stellen hinwegspringen, bis er den Schutz des Waldes fast erreicht hatte.
Als Oriane sah, dass der Junge seinen Verfolgern entkam, schickte sie François hinterher. Sein Pferd donnerte den Pfad hinunter, schlitterte und rutschte auf dem steilen, trockenen Boden, aber er holte rasch auf. Als Sajhë mit einem gewaltigen Satz ins Unterholz sprang, war François ihm dicht auf den Fersen.
Alaïs erkannte, dass Sajhë zu dem sumpfigen Marschland wollte, wo sich die Aude in etliche Wasserläufe teilte. Dort war der Erdboden grün und sah aus wie eine
Weitere Kostenlose Bücher