Das Verlorene Labyrinth
christlichen Kirche vereinnahmt worden war. Sowohl die byzantinische als auch die römische Kirche hatten sehr viel ältere Symbole und Mythen in ihre religiösen Vorstellungen übernommen.
Etliche Websites beschäftigten sich mit dem berühmtesten Labyrinth überhaupt: Knossos auf Kreta, wo der Legende nach der mythische Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, gefangen gehalten worden war. Alice überflog sie nur rasch, weil ihr Instinkt ihr sagte, dass sie in dieser Richtung nicht weiterkommen würde. Das einzig Erwähnenswerte war, dass minoische Labyrinthmuster nicht nur bei einer Ausgrabung in der altägyptischen Stadt Avaris gefunden und auf das Jahr 1550 v. Chr. datiert worden waren, sondern dass man auch welche in der ägyptischen Tempelanlage von Kom Ombo und in Sevilla entdeckt hatte. Alice speicherte die Informationen im Hinterkopf.
Vom 12. und 13. Jahrhundert an tauchte das Labyrinthsymbol regelmäßig in mittelalterlichen Manuskripten auf, die über die Klöster und Höfe Europas verbreitet wurden. Dabei drückten die Schreiber mit Ausschmückungen und Weiterentwicklungen den Illustrationen ihren eigenen Stempel auf.
Im frühen Mittelalter war ein mathematisch perfektes Labyrinth mit zwölf Wänden und vier Achsen zur beliebtesten Form geworden. Alice sah sich die Reproduktion eines Labyrinths an, das in die Wand der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kirche San Pantaleon im nordspanischen Arcera eingemeißelt war, und ein anderes, noch etwas älteres aus dem Dom von Lucca in der Toskana. Sie klickte eine Karte an, die das Vorkommen von Labyrinthen in europäischen Kirchen, Kapellen und Kathedralen zeigte.
Das gibt's doch nicht!
Alice wollte ihren Augen nicht trauen. In Frankreich gab es mehr Labyrinthe als in Italien, Belgien, Deutschland, Spanien, England und Irland zusammen: Amiens, St. Quentin, Arras, St. Omer, Caen und Bayeux im Norden; Poitiers, Orléans, Sens und Auxerre in Mittelfrankreich; Toulouse und Mirepoix im Südwesten und so weiter und so fort.
Das berühmteste Mosaiklabyrinth von allen befand sich in Nordfrankreich mitten im Hauptschiff der imposantesten gotischen Kathedrale des Mittelalters - in Chartres.
Alice schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch, was etliche Köpfe in ihrer Umgebung missbilligend hochfahren ließ. Natürlich. Wie konnte sie nur so blöd sein? Chartres war die Partner stadt ihrer Heimatstadt Chichester an der Südküste Englands. Mit elf hatte sie eine Klassenfahrt nach Chartres gemacht. Sie erinnerte sich vage, dass es die ganze Zeit geregnet hatte und dass sie im Regenmantel frierend und fröstelnd vor beeindruckenden Steinpfeilern und -gewölben gestanden hatte. An das Labyrinth jedoch erinnerte sie sich nicht.
In der Kathedrale von Chichester gab es kein Labyrinth, aber Chichester war auch noch die Partnerstadt von Ravenna in Italien. Alice fuhr mit dem Finger über den Bildschirm, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. In den Marmorboden der Kirche San Vitale in Ravenna war ein Labyrinth eingelassen. Laut dem Begleittext war es nur ein Viertel so groß wie das Labyrinth in Chartres und stammte aus einer sehr viel früheren Zeit, vielleicht sogar schon aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., aber es war eben auch ein Labyrinth.
Alice kopierte sich die Passagen, die sie haben wollte, in ein Word-Dokument und ließ sie ausdrucken. Während der Drucker lief, tippte sie »Kathedrale + Chartres« in die Suchmaschine ein.
Zwar hatte, wie sie erfuhr, bereits im 8. Jahrhundert an derselben Stelle irgendein Bauwerk gestanden, doch die derzeitige Kathedrale in Chartres stammte aus dem 13. Jahrhundert. Seitdem rankten sich esoterische Glaubensvorstellungen und Theorien um das Gebäude. Es gab Gerüchte, dass sich in seinen Gewölben und kunstvollen Steinsäulen ein Geheimnis von großer Bedeutung verbarg. Trotz der eifrigen Bemühungen der katholischen Kirche hielten sich diese Legenden und Mythen hartnäckig. Keiner wusste, in wessen Auftrag oder zu welchem Zweck das Labyrinth angelegt worden war.
Alice suchte die Abschnitte heraus, die sie brauchte, dann loggte sie sich aus.
Die letzte Seite war gerade ausgedruckt worden, und der Drucker verstummte. Um sie herum begannen die Besucher ihre Sachen zusammenzupacken. Eine verdros sen dreinblickende Bibliotheks mitarbeiterin fing Alice' Blick auf und tippte auf ihre Armbanduhr.
Alice nickte, sammelte ihre Unterlagen ein und stellte sich dann in die Schlange vor der Ausleihtheke an, um zu bezahlen. Es ging nur langsam
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