Das Verlorene Labyrinth
sich zu entspannen. Als die Getränke kamen, trank sie rasch zwei Glas Wasser, lehnte sich dann im Stuhl zurück, fest entschlossen, das Gefühl der Sonne auf ihrem Gesicht zu genießen. Sie goss sich ein Glas Rosé ein, gab ein paar Eiswürfel hinzu und trank einen Schluck. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so schnell aus der Fassung zu geraten.
Aber du bist zurzeit auch nicht gerade in emotionaler Bestform. Nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund hatte sie das ganze Jahr auf Hochtouren gelebt. Die Beziehung starb schon seit Jahren vor sich hin, und obwohl sie es als befreiend empfand, endlich wieder allein zu sein, war es dennoch nicht weniger schmerzvoll. Ihr Stolz war angekratzt und ihr Herz verwundet. Um ihn zu vergessen, hatte sie sich in die Arbeit und ins Vergnügen gestürzt, alles Mögliche getan, nur um nicht darüber nachzugrübeln, was falsch gelaufen war. Die zwei Wochen in Südfrankreich sollten ihren Akku wieder aufladen, bei ihr alles wieder ins Lot bringen.
Alice verzog das Gesicht. Tolle Ferien.
Der Kellner, der mit dem Essen kam, riss sie aus ihrer Selbstanalyse. Das Omelett war perfekt, schön gelb und innen zerlaufend mit reichlich Pilzstückchen und Petersilie. Alice aß mit grimmiger Konzentration. Erst als sie auch das letzte Tröpfchen Olivenöl mit dem Brot aufgetunkt hatte, wandte sie sich der Frage zu, wie sie den Rest des Nachmittags verbringen wollte.
Als der Kaffee kam, hatte sie sich bereits entschieden.
Die Bibliotheque de Toulouse war ein großes, wuchtiges Steingebäude. Alice hielt einer gelangweilten und unaufmerksamen Aufseherin am Eingang kurz ihren Benutzerausweis der British Library hin und wurde hineingelassen. Nachdem sie sich ein paarmal auf den zahlreichen Treppen verirrt hatte, fand sie schließlich die Abteilung für allgemeine Geschichte. Auf beiden Seiten eines Mittelganges standen lange, polierte Holztische, in deren Mitte eine Leiste mit Leselampen verlief. Um diese Zeit, an einem heißen }ulinachmittag, waren nur wenige Plätze besetzt.
Am hinteren Ende fand Alice, was sie suchte, eine Reihe Computerarbeitsplätze, die die gesamte Breite des Raumes in Anspruch nahm. Alice ließ sich von der Bibliothekarin ein Passwort geben und bekam einen PC zugeteilt.
Sobald sie online war, tippte Alice das Wort »Labyrinth« ins Eingabefeld der Suchmaschine. Der grüne Ladebalken am unteren Bildschirmrand füllte sich schnell. Sie wollte sich nicht auf ihr eigenes Gedächtnis verlassen, sondern hoffte, auf den Hunderten von Websites eine Abbildung ihres Labyrinths zu finden. Der Gedanke war so nahe liegend, dass sie gar nicht verstand, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war.
Von Anfang an sprangen ihr die Unterschiede zwischen einem traditionellen Labyrinth und dem Bild, das sie von der Höhlenwand in Erinnerung hatte, ins Auge. Ein klassisches Labyrinth bestand aus kompliziert miteinander verbundenen konzentris c hen Kreisen, die auf eine Mitte hin zuliefen. Das vom Pic de Soularac hingegen war eine Kombination von Sackgassen und geraden Linien gewesen, die vor und zurück und nirgendwohin führten. Es war eher ein Irrgarten.
Die eigentlichen frühen Ursprünge des Labyrinthsymbols und der damit verbundenen Mythologien waren komplex und schwer aufzuspüren. Man nahm an, dass die ersten Ausführungen über dreitausend Jahre alt waren. Labyrinthsymbole waren in Holz geschnitzt, in Fels, Fliesen oder Stein gemeißelt worden. Darüber hinaus gab es auch gewebte Darstellungen oder welche, die in die natürliche Umgebung integriert waren, wie Rasenoder Gartenlabyrinthe.
Die ersten europäischen Labyrinthe stammten aus der jüngeren Bronze- und frühen Eisenzeit, von 1200 bis 500 v. Chr., und waren in der Umgebung der frühen Handelszentren des Mittelmeerraumes entdeckt worden. Felsritzungen, die auf die Zeit zwischen 900 und 500 v. Chr. datiert wurden, waren im norditalienischen Val Camonica, in Pontevedra in Galizien und in der oberen nordwestlichen Ecke Spaniens am Cabo Fisterra gefunden worden. Alice studierte die Abbildungen. Sie erinnerten schon mehr an das, was sie in der Höhle gesehen hatte. Sie legte den Kopf schräg. Nah dran, aber keine volle Übereinstimmung. Es leuchtete ein, dass das Symbol durch die Kaufleute und Händler aus Ägypten und den Randgebieten des römischen Imperiums im Osten Eingang in andere Kulturen fand und verändert wurde. Es leuchtete außerdem ein, dass das Labyrinth, ein offensichtlich vorchristliches Symbol, von der
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