Das verlorene Land
Immerzu fragte sie sich, wie es ihnen wohl jetzt ging. Und wie lange es noch dauern würde, bis sie wieder bei ihnen war. Würde das Baby sie dann noch erkennen? Jetzt, wo sie daran dachte, spürte sie ihre angeschwollenen, schmerzenden Brüste.
»Ach, leck mich doch«, murmelte sie, um den Anflug von Schuldgefühlen zu verdrängen.
»Entschuldigung?«, fragte der Anzugtyp und wandte ihr den Kopf zu, während er weiter den Flur entlangeilte.
»Keine Panik«, lächelte sie ihn an. »Ich hab nur mit mir selbst geredet. Die ersten Anzeichen des Wahnsinns.«
»Sehr gut, Ma’am.«
Am Ende des Korridors erreichten sie eine Treppe und stiegen drei Stockwerke nach unten, was bedeutete, dass sie nun unterhalb des Flusses sein mussten. Die Betonwände waren feucht, und hier und da wucherten unangenehm aussehende pilzartige Gewächse. Einige der Glühbirnen waren kaputt, und im Treppenhaus war es recht dunkel. Als sie unten angekommen waren, traten sie durch eine gepolsterte Schwingtür in eine Werkstatt, die von zahlreichen Leuchtstoffröhren und Energiesparlampen erhellt wurde. Lüfter mühten sich ab, um die Feuchtigkeit zu beseitigen, aber der Betonboden wirkte dennoch leicht glitschig.
Arbeiter in Overalls beugten sich über Werkbänke, auf denen Kriegsgeräte lagen. Eine ganze Menge M-16-Gewehre standen an der hinteren Wand, wo einige Männer mit einem langen Gewehrlauf beschäftigt waren. Vielleicht versuchten sie ja auf irgendeine Art, die Durchschlagskraft der Munition zu verstärken. An anderen Werkbänken beschäftigten sich unschuldig aussehende Zivilisten mit Einzelteilen, bastelten an Geheimfächern und irgendwelchen Spezialgeräten herum, und manche hatten offenbar mit Sprengstoff zu tun. Inmitten der mechanischen Geräusche der Werkzeuge und Maschinen und dem Geruch nach Öl und Metall, dachte Caitlin, hätte sich ihr Vater bestimmt wohlgefühlt, auch wenn er kein fanatischer Waffennarr gewesen war.
Der Anzugtyp führte sie zu einer Frau im mittleren Alter, einer gedrungenen Person mit einem großen Leberfleck an einem ihrer Nasenlöcher.
»Hallo, Gerty«, lächelte Caitlin sie an. »Ist ja lange her.«
»Hallo, Schätzchen«, gab die Frau grinsend zurück und entblößte zwei Reihen mit alarmierend schlechten Zähnen. »Schicken Sie dich wieder raus? Bei einer Frau in deinem Zustand ist das wirklich eine Schande, eine absolute Schande. Du solltest zu Hause sein bei deinem Baby und deinem netten Mann. Tut mir sehr leid, was ich da gehört habe, Schätzchen, ich hoffe, es geht ihm gut. Das ist typisch für die Dummköpfe in dieser Abteilung, das kann ich dir sagen. Die nehmen, was sie kriegen können. Mr. Dalby hat mir gesagt, du bräuchtest eine neue Ausrüstung mit allem Drum und Dran. Netter Kerl, dieser Dalby, nicht? Ein Kavalier der alten Schule. Und wohin soll es diesmal gehen, du armes Ding?«
Gertys Sermon wurde nur unterbrochen, weil sie mal Luft holte oder wenn sie sich einen der Kekse zwischen ihre Zahnstümpfe schob, den sie vorher in ihre Teetasse tauchte.
»Ich muss nach Deutschland«, sagte Caitlin. »Wahrscheinlich fliege ich heute schon los.«
»Oje«, lamentierte die Waffenexpertin. »Von diesen Wurst fressenden Mistkerlen kann man nichts Gutes erwarten. Die haben meinen Großvater auf dem Gewissen, haben ihn mit einer Stuka in Dünkirchen fertiggemacht. War ein schlimmer Schock für Oma Dorothy. Und das, wo sie doch sowieso schon Herzprobleme hatte. Es ist wirklich ein Wunder, dass unsere Familie nicht schon längst ausgestorben ist.«
Gerty legte eine warme, breite Hand auf Caitlins Arm und zog sie weiter nach hinten in die Werkstatt. Einige Männer und Frauen, vor allem waren es Männer, drängten sich um Maschinenteile, befestigten und korrigierten Hebel und Skalen. Einer machte sich an einer Drehbank zu schaffen, wo lautes Kreischen zu hören war und weißer Funkenregen sprühte.
»Also, wie wollen Sie den verdammten Hunnen erledigen, ihm eine Tracht Prügel verpassen, Miss Cait? Oder lieber ganz leise mit einem Messer oder einem Stück Draht?«
Catilin grinste.
»Ich muss in die Schariavorstädte, Gerty …«
»O Gott …«
»Ich werde klammheimlich zu Werke gehen, aber …«
Sie brachten den Spruch gemeinsam wie aus einem Mund zu Ende: »… ein gut gezielter Schuss ist auch nicht von schlechten Eltern.«
»Also gut«, sagte Gerty, als sie bei ihrem Schreibtisch ankamen, einer Werkbank mitten im Raum. »Ich verstehe, dass du diskret vorgehen musst, aber es gibt
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