Das verlorene Land
vorbei. Die Gewaltausbrüche werden so schnell sicher nicht wiederkommen. Immerhin haben sie gut hunderttausend sogenannte Dschihad-Kämpfer und ihre Sympathisanten vertrieben. Das war nichts weiter als eine ethnische Säuberung, wenn du mich fragst.«
»Es waren wahrscheinlich sogar mehr«, gab sie zu. »Aber ich will mich nicht mit dir über die britische Politik streiten. Ich bin nicht wahlberechtigt, ich bin dort nur zu Gast. Wie sie ihr Land regieren, bleibt ihnen überlassen.«
Mirsaad hielt an einer Ecke an, von der aus sie bereits das Kaffeehaus sehen konnten. Es war freundlich beleuchtet, die Tische, die um Holzkohleöfen gruppiert waren, waren gut besetzt. Die Gäste schienen eine bunte Mischung zu sein, vor allem Deutsche und Menschen aus
dem Nahen Osten. Männer und Frauen, von denen einige Kopftücher trugen, andere aber nicht.
»Na, aber du bist doch nicht bloß ein Gast in diesem Land, Caitlin«, meinte Mirsaad kühn, bevor sie näher kamen. »Und du bist auch keine Polizistin. Nach meiner Erfahrung sind Polizisten in Europa nicht an irgendwelchen Nacht-und-Nebel-Aktionen beteiligt.«
Sie lächelte. »Nein Sayad. Ich bin keine Polizistin. Aber ich bin hinter dem Mann her, der sich an meiner Familie vergriffen hat. Und an einem Freund von dir. Ich brauche deine Hilfe, um ihn zu finden. Oder zumindest, um mit der Suche beginnen zu können.«
»Und was ist mit meinen Angehörigen? Werden sie nicht in Gefahr geraten, wenn ich dir helfe? Ich kann Entscheidungen für mich treffen. Aber ich darf nicht in Kauf nehmen, dass das Leben meiner Frau und meiner Kinder gefährdet wird.«
Sie schaute ihn leidenschaftslos an. Er war ein sehr intelligenter Mann und hatte eine Menge Erfahrung. Ihn konnte sie nicht so einfach hinters Licht führen. »Es ist tatsächlich gefährlich, Sayad. Der Mann, hinter dem ich her bin, ist absolut gnadenlos. Aber das bin ich auch.«
»Das glaub ich dir, Caitlin. Aber immerhin liebt Bret
dich und vertraut dir, weil du die Muter seines Kindes bist. Und aus diesem Grund, weil du eine Mutter bist und nicht, weil du gnadenlos bist, vertraue ich dir auch.«
»Lass uns einen Kaffee trinken«, sagte sie.
»Ja«, stimmte er zu. »Der Kaffee dort ist wirklich gut. Zwar ist Ahmet der Türke schon seit einiger Zeit weg, aber er schickt seinen Verwandten immer guten Kaffee aus dem Ausland.«
32
Texas, Regierungsbezirk
»Das dürfen Sie doch nicht tun, Mister. Wir haben doch nichts getan, weshalb man uns hängen kann.«
Miguel hielt inne, als er die Schlinge um den Hals des Mannes legen wollte. Der wehleidige und mitleiderregende Ton in der Stimme des Mannes traf ihn schon. Dann aber schüttelte er wütend den Kopf.
»Du bist ein Vergewaltiger, Sklavenhändler, Mörder, Viehdieb und Landdieb, und du hast viele Familien zerstört … Ich könnte noch eine Menge mehr aufzählen, aber wir sollten dich jetzt besser gleich aufhängen, mein Freund.«
Die Augen des Road Agent erstarrten wie die Oberfläche eines vergifteten Sees an einem bitterkalten Wintermorgen, als die Schlinge um seinen Hals gelegt wurde. Vor noch gar nicht so langer Zeit war er noch ein Junge gewesen, überlegte Miguel, als er die Pickel auf seinem Hals bemerkte. Sein blonder Haarschopf war dicht und vor einer Stunde extra für die Exekution gewaschen worden. Das war das Einzige gewesen, worum er gebeten hatte. Nun war alles Jugendliche von ihm abgefallen, und nur noch wenige kostbare Augenblicke seines Lebens waren ihm vergönnt. Es gab keinen Zweifel daran, dass er in den letzten Jahren ein lasterhaftes und verdorbenes Leben geführt hatte. Egal wie unschuldig er vielleicht geboren worden war, er hatte den falschen Weg eingeschlagen und schlechte Entscheidungen getroffen und damit alle Unschuld verloren.
»Vete y chinga a tu madre«, zischte der Mann und spuckte ihm ins Gesicht.
Einige der Mormonenfrauen wurden unruhig und stießen Entsetzensschreie aus, aber Miguel legte die Schlinge mit einem dünnen Lächeln um den unrasierten Hals des jungen Mannes, zog den Knoten zurecht, bis er genau hinter dem einen Ohr saß, wie es sein musste. Der Kehlkopf des Mannes ging auf und ab, als er zu schlucken versuchte, und seine ungewöhnlich feminin wirkenden Wangen bekamen rote Flecken. Miguel wischte sich mit dem Handrücken die Spucke des Mannes aus dem Gesicht.
Seine Tochter stand nicht weit entfernt und schaute kalt und distanziert zu. Niemand hatte mitbekommen, dass Miguel ihr eine Tracht Prügel verpasst hatte,
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