Das verlorene Land
nachdem sie ihm das Leben gerettet hatte. Was ihn so aufgebracht hatte, war nicht gewesen, dass sie ungehorsam gewesen war, sondern dass sie die Bestrafung völlig apathisch hingenommen hatte. Sie weinte nicht, und es kamen keine Tränen, nichts. Er hätte genauso gut ein Sofa oder einen störrischen Esel auspeitschen können.
Er war sich nicht sicher, was ihm mehr Angst machte, Sofias Gefühllosigkeit oder die Tatsache, dass er die Kontrolle verloren und sie viel zu heftig verprügelt hatte. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, aber er hatte einige Sekunden lang die Kontrolle über seine Gefühle genauso verloren wie über seine Tochter. Und das, nachdem sie ihm das Leben gerettet hatte. Sie war in der Tat unglaublich effektiv gewesen. Die Mormonen hatten nicht einmal bemerkt, dass sie hinter ihnen war, bis der größte Teil der Schießerei beendet war. Sie hatte sechs Männer und eine Frau getötet. Die Frau war eine der Huren gewesen, sie hatte versucht, Ben Randall hinterrücks mit dem Messer zu erstechen. Der hatte kaum mitbekommen, was passierte, bis der junge Orin es ihm erzählte, der beobachtet hatte, wie der Hals der Frau ganz plötzlich und ohne ersichtlichen Grund explodiert
war. Sofia veränderte sich auf eine Weise, die Miguel nicht nachvollziehen konnte, sie verwandelte sich in eine Person, mit der er kaum noch etwas zu tun hatte, und ihm fehlte die Macht, etwas daran zu ändern.
Heute Morgen zum Beispiel war sie entschlossen, noch zusätzlich so viele Rachegelüste wie möglich zu befriedigen, indem sie dem Hängen zuschaute. Miguel war gespalten, wenn er daran dachte. Es war eine hässliche Angelegenheit, einen Menschen kaltblütig zu töten, auch wenn es gerecht war, und er hätte ihr diesen Anblick gerne erspart. Andererseits würde es sie vielleicht auch erleichtern, wenn ihr vor Augen geführt wurde, dass manchmal die Bösen eben doch bestraft wurden. Vielleicht würde ihr das die Zuversicht geben, dass die Männer, die ihre Familie umgebracht hatten, auch eines Tages an so einem Strick baumeln oder in einer Blutlache enden würden. Wie auch immer, sie war nun mal hier, und er würde ihr nicht verbieten, dabei zu sein, auch wenn sie letzte Nacht ungehorsam gewesen war.
Miguel wandte sich wieder seiner Aufgabe zu.
»Du musst ja ein mutiger Mann sein, wenn du es schaffst, angesichts des Todes noch zu spucken«, sagte er. »Ich an deiner Stelle hätte bestimmt einen ziemlich trockenen Mund.«
»Schwanzlutscher«, stieß der Mann hervor.
Miguel drängte sein Pferd von dem jungen Mann weg und dirigierte es mit dem Zügel neben den nächsten Todeskandidaten. Insgesamt waren es drei. Sie hatten ihnen die Hände auf den Rücken gebunden, nachdem sie sie auf die Pferde gesetzt hatten. Anschließend waren sie unter die ausladenden Äste einer Ulme geführt worden, auf einen Hügel, von dem aus man die Stadt überblicken konnte. Die anderen beiden Verurteilten waren älter. Der eine war ein kräftiger bärtiger Mann, der rein äußerlich schon wie eine Bedrohung wirkte und Miguel finstere Blicke zuwarf, als würde er glauben, er könnte allein durch abgrundtiefen
Hass seine Situation verbessern. Während die anderen beiden, der Junge und der dritte Überlebende, ein dünner, grimmig dreinblickender Kerl mit Leidensmiene, auf den Pferden nur mit Seilen gefesselt worden waren, hatte man den Riesen mit dem schwarzen Bart von oben bis unten in Ketten gelegt, weil er sich so heftig gewehrt hatte.
»Ich werde jetzt die Schlinge über deinen Kopf schieben«, sagte Miguel. »Ich kann durchaus verstehen, dass du gern deine ganze Kraft darauf verwenden möchtest, Widerstand zu leisten, aber wenn du Ärger machst, dann drücke ich dir ein Auge mit dem Daumen aus. Hast du das verstanden?«
Die kleinen Schweinsaugen des Mannes, die inmitten des fetten Gesichts und hinter dem üppigen Vollbart beinahe verschwanden, blinzelten unheilvoll. Ein Blick auf den Mexikaner aber genügte, um ihm klarzumachen, dass der seine Drohung ernst meinte. Er nickte und senkte den Kopf, damit ihm die Schlinge umgelegt werden konnte.
Der Letzte der drei war eine Art Anführer. Nicht der oberste in der Hierarchie – den hatte Miguel im Hy Top Club erledigt -, aber einer der Befehlshaber. Er hatte lange Haare und einen drahtigen Körperbau, der Miguel an die Soldaten in Corpus Christi erinnerte. Die anderen beiden hatten sich ihm nach ihrer Festnahme untergeordnet, und er hatte versucht, mit den Mormonen zu verhandeln und ihnen
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