Das verlorene Land
seinem Magen noch schlimmer. Ständig musste er schlucken, um sich nicht zu übergeben. Er unterdrückte den Brechreiz und fuhr fort, die verwesten Fleischteile in den Müllsack zu schaufeln, den Aronson aufhielt. Es war eine Aufgabe, die mit der Zeit leider nicht zur Routine wurde, und jeder dumpfe Aufschlag des nächsten herabfallenden Körpers machte es nur noch schwerer. Glücklicherweise blieben die meisten Leichen mehr oder weniger im Ganzen.
Mehr oder weniger.
Die drei Männer, die sich diese Aufgabe aufgeladen hatten, blickten finster und abweisend drein, als Benjamin die Pferde antrieb, die den verkohlten Holzpfeiler wegziehen sollten, von dem die letzte noch stehende Wand des Backsteingebäudes gestützt wurde. Mit einem lauten Knacken gab er nach, und die Ziegelwand brach unter lautem Getöse zusammen. Der Regen hatte eine Stunde vorher aufgehört, aber die Steinmasse war so feucht geworden, dass sich keine Staubwolke erhob.
»Wir werden jetzt für die Toten beten, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miguel«, sagte Cooper Aronson.
»Ich werde mein Ave-Maria für sie heute Abend sprechen«, antwortete er. »Jetzt gehe ich mich erst mal waschen.«
Ben Randall, der gerade die Pferde losband, schaute auf. »Wenn Sie die Hauptstraße hinter den Eisenbahngleisen runter gehen, da drüben hat Trudi Jessup in einer Hütte
Wasser heiß gemacht. In einer ehemaligen Schilderfabrik. Sie hat auch Seife, saubere Kleider und Stiefel dort. Die hat sie aus dem Supermarkt geholt. Ich glaube, Ihre Tochter und Sally haben ihr geholfen, Brennmaterial zu suchen.«
»Danke«, sagte Miguel, und seine Laune hob sich bei der Aussicht, dass er sich den Leichengeruch abwaschen konnte. Dass Miss Jessup sich an der Arbeit beteiligt hatte, gefiel ihm ebenfalls. Sie war die einzige Nicht-Mormonin im Lager – wenn man von den Huren absah, denen man aber nicht trauen konnte -, und es war wirklich eine Erleichterung, mal mit jemandem zu tun zu haben, der nicht diese steife moralische Art der Heiligen der letzten Tage an sich hatte.
Er nahm sein Gewehr, das er gegen eine Hauswand gelehnt hatte, und verabschiedete sich von den beiden Männern, die sich auf eine weitere dieser eigenartigen Totentaufen vorbereiteten. Wenn das so weitergeht, dachte Miguel bei sich, wird sich der Himmel der Mormonen ganz schön gefüllt haben, noch bevor wir in Kansas City angekommen sind.
Er führte Flossie am Zügel und ging parallel zur Hauptstraße, vorbei am Sportzentrum, wo man die blauen Silhouetten von Basketballspielern auf den getönten Fenstern erkennen konnte. Er zitterte, denn die letzte Restwärme des Tages verging sehr rasch mit der hereinbrechenden Dunkelheit und erinnerte ihn daran, dass seine Kleider nass und schmutzig waren. Er würde sie wegwerfen müssen. Es war unmöglich, sie noch zu reinigen. Auf der anderen Straßenseite bemerkte er die zerschlagenen Schaufenster eines »Silver Lady«-Schmuckladens. Der Tresen im Innern war umgeworfen und ausgeplündert worden. Davor parkten einige Autos mit platten Reifen. Er überquerte die Magnolia und die Oak Street und wunderte sich darüber, dass die Straßen von Palestine nicht ebenso
von ineinander verkeilten Autos übersät waren wie andere Städte, durch die er gekommen war. An der nächsten Kreuzung musste er allerdings einem umgefallenen Baum ausweichen, der alles blockierte. Er fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis er den Platz gefunden hatte, wo die Frauen das provisorische Bad eingerichtet hatten. Aber nachdem er diagonal über einen Parkplatz gegangen war, sah er das orangefarbene Flackern des Feuers vor einem weißen Gebäude nur ein paar Hundert Meter entfernt.
Es war genau so, wie Benjamin gesagt hatte. In dem Gebäude war eine Schilderfabrik untergebracht gewesen. Miss Jessup trat aus dem Haus, als er sich näherte, vielleicht weil das Klappern der Hufe sie alarmiert hatte. Er atmete erleichtert auf, als Sofia an ihrer Seite erschien. Er hatte sich schon Sorgen gemacht. Sie winkte, und er hob das Gewehr, um den Gruß zu erwidern. Er spürte sein Alter mehr als jemals zuvor. Jedes einzelne Jahr wog schwer auf seinem Rücken und ließ Arme und Beine schwer werden. Dies war ein hartes Land. Das hatte man ja immer schon gesagt. Aber es gab Härte und es gab das Böse, und je weiter Miguel in das Herrschaftsgebiet der Road Agents eindrang, umso schlimmer sah alles aus. Er hoffte nur, dass Miss Jessup große Wannen gefunden hatte, damit er jeden Millimeter seines Körpers
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