Das verlorene Land
Schlafen hingelegt hatten.
Mit Einbruch der Dunkelheit war es empfindlich kalt geworden, und Sofia und er hatten sich ihre dicken Wolljacken übergezogen. Sie trugen beide ihre Reiterhandschuhe, die sie nicht gegen die Fäustlinge eintauschen wollten, um sofort ihre Waffen benutzen zu können, falls ein plötzlicher Angriff über sie hereinbrach. Miguel trug noch immer seine Winchester und seine Lupara bei sich, nachdem er ein Angebot der Mormonen ausgeschlagen hatte, sich aus ihrem Waffenarsenal zu bedienen. Die größere Feuerkraft und Reichweite eines M-16-Sturmgewehrs wusste er durchaus zu schätzen, aber er hielt lieber eine Waffe in der Hand, an die er gewöhnt war. Sofia hatte weiterhin
ihre Remington, aber zusätzlich dazu einen M-4-Karabiner, den sie einem der Agents in Crockett abgenommen hatte. Sie hatte mit dem M-16 geübt, das ziemlich ähnlich war, als sie nach Texas gekommen waren, und mit dem Karabiner eine halbe Stunde lang vor Einbruch der Dunkelheit herumprobiert.
Sie überquerten einen ehemaligen Feldweg, der über die Lichtung geführt hatte. Unter ihren Sohlen knirschte der Kies. Miguel hörte das Geräusch der Rinder, die am Rand des Sees durch Matsch und Wasser trampelten und im See ihren Durst stillten. Auf der anderen Seite der Lichtung sah man die Silhouetten von Adam und Ben Randall, die am Rand der Herde patrouillierten. Red und Blue, die beiden Wachhunde, blieben dicht neben Miguel, während er weiterging.
»Papa«, sagte Sofia leise.
»Ja, Prinzessin, was ist denn?«, fragte Miguel mit gedämpfter Stimme. Mit einem Ohr hörte er auf seine Tochter, mit dem anderen achtete er darauf, ob irgendwo nah oder fern ein bedrohliches Geräusch zu hören war.
»Die Männer, die all die Menschen in dieser Stadt umgebracht haben …«
»Die Road Agents, in Palestine.«
»Ja«, sagte Sofia. »Glaubst du, sie sind hier irgendwo in der Nähe?«
Miguel legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich hoffe nicht«, sagte er. »Ich glaube es auch nicht. Wenn es so wäre, dann hätten sie uns längst entdeckt und überfallen.«
Er merkte, dass seine Tochter mit dieser Antwort nicht zufrieden war.
»Wir werden es schaffen«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Wenn wir vorsichtig und wachsam sind, können sie uns nicht überraschen wie diese armen Siedler. Und wenn sie es versuchen, dann werden wir es ihnen genauso heimzahlen wie den Piraten, die uns auf dem Boot von Miss
Julianne überfallen haben. Du erinnerst dich doch noch daran, oder?«
»Natürlich, Papa, ich war ja kein kleines Kind mehr, das weißt du doch. Ich habe dir sogar mit der Ausrüstung und der Munition geholfen.«
Miguel brummte zustimmend und gab ihr einen Klaps.
»Ja, das hast du, meine Kleine«, sagte er. »Du warst sehr tapfer. Unsere ganze Familie ist tapfer gewesen.«
Beide verfielen in trauriges Schweigen. Miguel presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, als wollte er damit alles verneinen, was ihnen zugestoßen war. Aber natürlich gab es keine Macht auf dieser Welt, die das bewirken konnte. Und so stapften sie eine Weile schweigend am Waldrand entlang und traten gelegentlich in einen Kuhfladen, den sie in der Dunkelheit nicht sehen konnten. Miguel spürte, wie Sofias Hand nach ihm tastete, und drückte sie.
»Ich vermisse Mama«, sagte sie. »Und den kleinen Manny und Abuela Ana und …«
»Ich weiß, ich weiß. Ich vermisse sie auch alle, jede Minute an jedem Tag, egal ob ich wache oder schlafe. Aber ich habe dich noch, Sofia, und du sollst mir nicht genommen werden.«
Miguel hielt bei einer kleineren Ansammlung von Longhorn-Rindern, die sich zerstreuten, als die Hunde sich näherten, und legte seiner Tochter die Hände auf die Schultern. Es war gut, dass sie trauerte, dass sie Gefühle zeigte, weil sie ihre Familie verloren hatte. Viel zu lange schon war sie kalt und abweisend gewesen und ihm wie eine Fremde vorgekommen.
»Ich weiß, wie schwer es manchmal ist, weiterzumachen. Manchmal scheint alles so sinnlos zu sein«, sagte er. »Aber das würden sie nicht wollen, Sofia. Vor allem deine Mutter nicht. Sie würde von mir verlangen, dass ich dich in Sicherheit bringe, so dass du heranwachsen und die Familie fortführen kannst. Letzten Endes ist das alles, was
zählt. Auf mich kommt es nicht an, meine Zeit ist schon fast vorbei …«
Er spürte, wie sie sich anspannte, aber er gab ihr zu verstehen, dass sie schweigen sollte, bevor sie anfing zu protestieren.
»Nein, es ist wahr. Ich bin nicht sehr alt,
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