Das verlorene Land
bevor er gegen diese Eindringlinge vorgehen wollte, die nur hier waren, um zu plündern. Ihre Zeit würde schon noch kommen. Trotzdem fragte er sich, wieso sie die nicht zuallererst bekämpft hatten. Etwa, weil sie kein so großartiger und furchterregender Gegner waren? Nun ja, es war nicht seine Aufgabe, sich mit Fragen der Strategie auseinanderzusetzen, dafür hatte er ja seine Vorgesetzten.
Immer wieder musste er an das Gefecht denken, an dem er eigentlich gar nicht richtig teilgenommen hatte, und ein klein wenig schämte er sich jetzt dafür. Gleichzeitig spürte er, wie die Kälte des Flusses langsam bis in seine Knochen kroch, je weiter er schwamm. Wenn er sich vor Augen führte, was für eine Aufregung es gewesen war und welche Ängste er während des Angriffs ausgestanden hatte, fragte er sich, ob er sich nicht wie ein verängstigtes Tier benommen hatte, das von einem schrecklichen Monster angefallen wird. Dabei war er doch so stolz und aufrecht in den Kampf geschritten. Aber nun, wenn er zurückblickte ohne diese Arroganz, die er sich antrainiert hatte, musste er zugeben, dass seine ganze Truppe beim ersten Auftauchen der Amerikaner Hals über Kopf geflüchtet war. Der Feind hatte ihnen ihren Stolz geraubt wie ein böser Teufel, der einen in den Bann schlägt, und sie
in willenlose Maschinen verwandelt. Das war etwas ganz anderes, als ein Mensch zu sein, mit seinen normalen Ängsten und Schwächen.
Yusuf wurde von einer Welle des Selbstmitleids erfasst, und ihm war, als würde der Emir selbst ihn anschauen und ihm seine schlimmen Fehler vorwerfen. Er fühlte sich, als würde er vor dem weit aufgerissenen Maul eines riesigen Hais schwimmen. Ein kümmerliches Stöhnen entrang sich seiner Kehle, er schloss die Augen und wartete darauf, aufgefressen zu werden.
Was hatte er getan?
Nichts, er hatte nichts getan, außer sich selbst zu erniedrigen, als er zum ersten Mal in eine Kampfsituation geraten war. Eine schreckliche Gewissheit bemächtigte sich seiner. Natürlich war da gar kein riesiger Hai, der ihn bedrohte, auch nicht der durchdringende strafende Blick des Emirs. Nein, es war Gott, der ihn anschaute. Allah selbst sah vom Himmel auf ihn herab und erkannte, dass Yusuf ein Unwürdiger war.
»O nein, bitte …«
Wieder spürte er dieses gleiche lähmende Gefühl, das er noch von dem Moment kannte, als das Gefecht losging. Dieses Gefühl, von seinem Körper getrennt zu werden und sich mit einem Mal im freien Fall durch Raum und Zeit zu befinden. Ihn schwindelte, sein Kopf schwankte hin und her, bevor er ihn voller Verzweiflung auf das Plastikkissen bettete. Am Rand seines Blickfelds breitete sich die Dunkelheit aus, als die schlimmen Erinnerungen aus seiner Vergangenheit aufstiegen, ungewollt, aber unbezwingbar.
Er erinnerte sich an diese staubige Straße im ugandischen Moroto, kurz nachdem Captain Kono ins Dorf gekommen war, was sein Leben völlig verändert hatte. Es war schon so lange her, dass er geglaubt hatte, diese Zeit gehöre zu einer ganz anderen Welt, nicht zu der, in der er
jetzt lebte. In dieser anderen Welt war er nicht Yusuf Mohammed. Er war kein Sünder. Er war nur ein Kind, das gerade erfahren hatte, dass die schlimmsten Grausamkeiten, die es gab, ausgerechnet von Kindern verübt wurden, von den Kindern, die Captain Kono erzogen hatte. Die Kinder der Göttlichen Befreiungsarmee, die ihn aus seinem Dorf wegholten und jeden dort umbrachten. Sie wetteiferten geradezu darum, wer der Brutalste und Gewalttätigste unter ihnen war. Eine seiner schlimmsten Erinnerungen war, wie sie die staubige Straße entlanggingen und ihnen ein alter Mann auf einem Fahrrad entgegenkam. Konos Kindersoldaten begannen zu schreien und zu kreischen, als sie ihn näher kommen sahen. Captain Kono hasste Fahrradfahrer und hatte festgelegt, dass jeder, der in seiner Gegenwart Fahrrad fuhr, mindestens ein Bein abgehackt bekommen sollte. Zwei erwachsene Männer zerrten den alten Mann vom Fahrrad und an den Straßenrand. Er zitterte vor Angst, grinste aber und lachte nervös, als wollte er ihnen signalisieren, dass er das alles für einen gelungenen Scherz hielt. Schließlich kam Kono hinzu, der neben Yusuf geradezu riesenhaft wirkte. Auch er grinste, aber im Gegensatz zu dem alten Mann hatte er wirklich seinen Spaß. Er erklärte dem Jungen, dass er seinen Kameraden beweisen sollte, dass er Biss hatte, indem er das Bein des alten Mannes bis zum Knochen abnagen sollte. Genau wie ein Tiger, fügte Kono lächelnd hinzu.
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