Das verlorene Land
gewusst, nachdem sie einige Artikel in der französischen Presse darüber gelesen hatte, kurz vor dem Effekt und der französischen Intifada. Vielleicht war Dalby ja auch nur etwas altmodisch in solchen Dingen.
Er lenkte den Wagen sorgsam an den marschierenden Soldaten vorbei, um sie keinesfalls zu bespritzen, und wartete, bis er sie alle überholt hatte, bevor er aufs Gaspedal trat und vorsichtig beschleunigte, um keinen Matsch aufzuwirbeln.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, erklärte er ein paar Minuten später, als sie an einem schlichten weißen zweistöckigen Gebäude vorbeifuhren. Es hatte weder Fenster noch Türen, nur leere Löcher, durch die der Wind blies. Sie nahm an, dass dies eines der ersten Geisterhäuser von Imber war. Das Dorf war im Jahr 1943 von der Armee übernommen worden und diente als Übungsplatz für die Invasion des europäischen Kontinents im Zweiten Weltkrieg. Und obwohl man den Bewohnern versprochen hatte, dass sie wieder in ihre Häuser zurückkehren dürften, hatten die Militärs das Dorf behalten.
»Und dieser Ort hier ist seit sechzig Jahren Sperrzone?«, fragte sie.
Dalby deutete lässig mit der linken Hand auf eine schmale Reihe von Ulmen, die zwei weitere kastenartige Gebäude überragten wie jenes, an dem sie gerade vorbeigekommen waren. Ohne Fenster und andere Anzeichen, dass sie bewohnt wurden, sahen diese Häuser ziemlich einsam und verloren aus, auch wenn man davon ausgehen durfte, dass die Armee einige Anstrengungen unternommen hatte, sie zu erhalten. Rein baulich betrachtet wirkten sie stabil, was normalerweise nicht der Fall gewesen
wäre, wenn man sie einfach Wind und Wetter ausgeliefert hätte.
»In der guten alten Zeit«, sagte Dalby, »vor der Energiewelle, hat die Army das Dorf für Besucher geöffnet. Aber seit sich die Dinge geändert haben, ist die Gegend um Imber herum wieder Sperrgebiet. Die Gebäude werden noch immer zum Training von Spezialeinheiten genutzt, aber wir haben so eine Art Anlaufpunkt hier im ehemaligen Pub und außerdem Zugriffsrecht auf alle Gebäude, die sich im Ort befinden. Damit sind wir gut geschützt vor neugierigen Blicken und natürlich gut abgesichert in der Mitte eines sechzehntausend Hektar großen Gebiets, in dem ständig scharf geschossen wird.«
Der Regen fiel jetzt nur noch ganz leicht, als sie in der Hauptstraße des Dorfes ankamen. Welke Blätter und Reste von Essensverpackungen waren vom Wind ins Erdgeschoss des ersten Gebäudes geweht worden, einem langen rechteckigen Gebäude mit einem grün gestrichenen steilen Dach. Es war ein schmuckloses, ziemlich hässliches Haus und sah gar nicht so aus, wie Caitlin sich Gebäude in einem alten englischen Dorf vorgestellt hatte. Ein Stück entfernt ragte ein Kirchturm aus einer Ansammlung von Eichen und Kastanienbäumen hervor. Die Spitze schien sich leicht zur Seite zu neigen, und Caitlin fragte sich, ob die Armee dieses Gebäude wohl genauso gut instand gehalten hatte wie die anderen.
»Das da drüben ist der Turm von St. Gilles«, sagte Dalby, dem die Rolle des Fremdenführers zu gefallen schien. »Sehr hübsch mit einigen schönen Wandmalereien im Innern. Die Kirche stammt noch aus der Zeit von Shakespeare. Dürfte also gut und gerne fünfhundert Jahre alt sein. Gehört sozusagen zum kulturellen Erbe.«
»Wird sie noch genutzt?«
»Wurde sie, einmal im Jahr. Aber ein Blitz ist in den Turm eingeschlagen. Im gleichen Jahr, als die Energiewelle
kam. Seitdem ist die Kirche geschlossen. So, da wären wir.«
Er lenkte den Wagen scharf nach links, vorbei an einigen kahlen, düster wirkenden, verwaschenen Häusern, denen man ansah, dass sie der rauen Witterung ausgesetzt waren. Ein schmaler Kiesweg führte auf einen großzügig angelegten Parkplatz, auf dem zwei Zivilautos und ein Land Rover der Armee standen. Einige Soldaten, die wesentlich älter und abgebrühter aussahen als die Rekruten, die sie überholt hatten, gingen von einem Gebäudeteil in den nächsten und rauchten Zigaretten. Keiner nahm von Dalbys Wagen Notiz, und auch Caitlins Begleiter ignorierte die Männer.
»Wir sind da drüben im alten Pub«, sagte er, als der Wagen vor einem langgestreckten niedrigen Gebäude hielt, das offenbar noch älter war als die Häuser, an denen sie vorbeigekommen waren.
»Sieht so aus, als hätte Shakespeare schon mal darin übernachtet«, sagte sie.
»Hatte früher mal ein Reetdach und all das, in der guten alten Zeit. Die Mauern sind noch aus Lehm und Flechtwerk. Man kann sogar noch
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