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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
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und dann breitete sich ein angenehm warmes, beruhigendes Gefühl von dort aus, durchflutete schmerzstillend ihren Körper und wischte alle schlimmen Gefühle und Krämpfe fort. Ihre Augenlider wurden schwer, und ihr Kinn sank auf die Brust, als Rhino sie vom Boden hochhob und sie forttrug in einen langen dunklen Tunnel.
     
    Julianne kam langsam und stoßweise wieder zu Bewusstsein. Sie träumte. Es war natürlich ein Alptraum. Ein billiges Gruseln, wahrscheinlich davon, zusammen mit Fifi zu viel Camembert gegessen und dabei einen langweiligen Film wie »28 Days Later« angeschaut zu haben. Sie hatten
das blöde Ding nur deshalb in den DVD-Player geschoben, weil Mr. Lee eine Kopie des Films von einem Landgang in Kupang mitgebracht hatte und sie sich nicht ein weiteres Mal »Der englische Patient« ansehen wollten. Und nun musste sie sich aus diesem Alptraum herausarbeiten, sich in einer Welt ohne Menschen durchschlagen. Nein, es war eher eine Welt, die von den verlorenen Seelen Millionen verschwundener Menschen heimgesucht wurde, die nun zurückkehrten, aus irgendwelchen Regionen einer Hölle, die ihnen jede Spur Menschlichkeit ausgetrieben hatte. Sie hatten milchige Augen wie bei toten Fischen und verrottete Lippen, hinter denen gelbe Zähne zu sehen waren, und sie waren hinter ihr her. Natürlich war es unmöglich wegzurennen. Sie versuchte es, aber sie kam nicht voran, keinen Zentimeter, egal wie sehr sie auch versuchte, die Beine zu bewegen.
    Jules versuchte sich aus diesem benebelten Zustand zu befreien und wehrte sich mit aller Kraft gegen die höllischen Visionen, die wie ein schweres Gewicht auf ihr lasteten. Schließlich erwachte sie in ihrem Hotelzimmer in New York und lag auf weißen Laken aus ägyptischer Baumwolle, mit der Aussicht auf einen aufregenden Shoppingausflug. Später würde sie mit Paul ins Theater gehen und dann zum Abendessen ins Gabriel’s . Sie würde ihre neuen Kate-Spade-Sling-Pumps tragen und vielleicht das Kleine Schwarze aus Seide von Karen Millen. Vor allem die Pumps waren sehr wichtig, denn sie sahen einfach großartig aus, und sie hatte sie gerade erst gekauft, und auch der Laden war wunderbar gewesen. Es war so, als würde sie immer wieder durch ihn hindurchschweben und sich um sich selbst drehen, während gleichzeitig Tausende scharfer Glassplitter umherflogen und mit ihnen der abgeschnittene Kopf von Ryan Dubois. Und nun fiel sie nach unten, schlug auf dem Fußboden auf, genau mit der Schulter, die sie sich beim Trampolinspringen ausgekugelt
hatte, und dann spielte sie wieder Hockey in ihrer Schule und musste schreien …
    Schreien.
    Heftig nach Luft schnappend, wachte sie auf. Sie war erschöpft und wusste nicht, wo sie war, hatte das Gefühl, sie wäre im freien Fall durch ihre persönliche Lebensgeschichte gestürzt.
    Paul?
    Lieber Paul. O Gott, wie lange war das her, seit sie sich zum letzten Mal verabredet hatten.
    Und Fifi war tot.
    Und sie war schon so lange nicht mehr auf Shoppingtour in New York gewesen.
    Und diese Schuhe hatte sie irgendwo in England zurückgelassen.
    Und dann wusste sie wieder, wo sie war. Sie war durch das Schaufenster dieses Kate-Spade-Ladens an der Ecke Broom und Mercer Street geschleudert worden. Sie hatte da überhaupt nicht eingekauft, noch nie. Einen überaus ärgerlichen, irrationalen Augenblick lang konnte sie sich nicht erinnern, wo sie diese supertollen Slingpumps erstanden hatte, die ihre Schwester ihr vor vielen Jahren gestohlen hatte. Und dann fiel es ihr wieder ein. Es war in San Francisco gewesen, damals im Jahr 2000, als der Laden eröffnet wurde. Sie versuchte, sich hochzustemmen, gegen ein Regal zu lehnen, aber jedes Mal meldete sich dieser pochende Schmerz, und sie stöhnte laut auf. Es war jetzt der dritte Versuch, der ihr misslang, und jedes Mal dauerte es länger, bis sie wieder halbwegs zu Kräften kam.
    »Rhino?«, sagte sie und musste husten, weil sie Staub in Mund und Kehle hatte. »Rhino, bist du da?«
    »Still«, sagte er leise. »Piraten.«
    Das eine Wort brachte sie endgültig wieder in die Wirklichkeit oder so dicht heran, dass es kaum noch einen Unterschied
machte. Im Laden war es dunkel, ebenso draußen auf der Straße. Sie rechnete sich aus, dass sie wohl über acht Stunden lang bewusstlos gewesen war. Sie erinnerte sich an den plötzlichen Raketenangriff, der wie ein Tsunami von Explosionen über sie und die schmale Straße gekommen war, und an dieses bekannte, aufregende Gefühl, durch die Luft geschleudert zu

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