Das verlorene Observatorium
Nachts, als alle schliefen, nahm ich sie weg (Position 994).
Gedenken an Vater (4)
Ohne Vater war die Welt mit einem Mal unsicher; es war ihr unbegreiflich, was sie ohne Vaters innere Stärke machen sollte. Die Welt wurde zerbrechlich. Nach Vaters Tod bewegten wir uns mit großer Vorsicht, wir fanden es unvorstellbar, daß das Leben weitergehen durfte, als wäre überhaupt nichts geschehen, wir rechneten eigentlich mit Naturphänomenen, einer Sonnenfinsternis, einem Orkan oder Erdbeben. Wir fühlten uns betrogen, als nichts dergleichen geschah. Wir wollten, daß die Welt anläßlich Vaters Tod mit Katastrophen ein Zeichen setzte. Wir waren überzeugt, daß etwas der Trauer unserer blutenden Herzen gleichkam: Die Sonne mußte heute oder morgen vom Himmel fallen. Aber nichts passierte.
Schon bald begriffen wir, was Vaters Tod für uns bedeutete: Es bedeutete, daß der Tod möglich war. Nachdem wir uns das klargemacht hatten, fingen wir an zu zittern und gingen gebeugt und mit kurzen Schritten. Erst Vaters Tod hatte uns dies gelehrt, hatte uns solch tiefe Traurigkeit und Wut und Angst gelehrt. Alle Toten zuvor waren lediglich Probefahrten für Vaters Tod gewesen. Bei ihnen schien es irgendwie leicht zu sein. Wer weinte überhaupt um diese toten Menschen?
Aber Mutters Gleichgültigkeit gegenüber Vaters Tod ließ mich schon bald erkennen, daß niemand so sehr litt wie ich. Und wenn ich wir dachte, meinte ich eigentlich ich.
Gedenken an Vater (5)
Ich besuchte das Observatorium bei Nacht. Als ich mit Vater dort war, hatten wir das Glas wieder auf die Kuppel beschwören können, wir hatten durch den Feldstecher geschaut und uns vorgestellt, wir säßen hinter einem riesigen Teleskop. Ohne ihn jedoch verblasste das Observatorium: Der metallene, kuppelförmige Rahmen war wieder rostig, überall lag Taubenscheiße, am Eingang sogar eine tote Taube.
Wenn ich mit Anna Tap oben im Observatorium war, zeigte ich ihr die Sterne und Planeten. Obwohl Anna keine Aufgaben mehr für meine Eltern zu erledigen hatte, kam sie oft in Wohnung 6 und rauchte, oft unternahmen wir kurze Spaziergänge. Ich glaube, wir wurden Freunde. Ich redete mit ihr ausschließlich über Vater. Eines Abends begann sie zu weinen. Die arme Anna hatte keinen Vater, zumindest keinen, den sie kannte. Aber das war nicht der Grund für ihre Tränen. Francis, sagte sie, kannst du mich sehen? Nimmst du mich überhaupt wahr? Ich könne sie sehen, sagte ich, sie säße neben mir, oben im Observatorium, und schaue zu den Sternen auf. Sie sagte, das meine sie nicht. Meine Gedanken, sagte ich, kreisten im Moment ausschließlich um Vater. Das wisse sie, sagte sie, denn seit Wochen hätte ich über nichts anderes mehr geredet als nur über Vater. Ob es nicht besser wäre, wenn ich Platz machte für jemand anderen, wenn ich jemand anderen hineinließe. Vielleicht gibt es ja jemanden, der gern hineinwill, Francis, sagte sie. Denk mal drüber nach, sagte sie und ging.
Gedenken an Vater (6)
Als ich in dieser Nacht in Wohnung 6 zurückkehrte, hörte ich Geräusche aus dem Schlafzimmer meiner Mutter. Das Knirschen von Zähnen. Den Zähnen meines Vaters. Aufgeregt öffnete ich die Tür, fragte mich dabei, ob sich Vater nicht in Mutters Zimmer aufhielte, vielleicht war er ja doch nicht gestorben. Mutter schlief. Auf ihrem Nachttisch, neben dem Nachtlicht, stand ein Diktiergerät und spielte Geräusche von Vaters Zähnen. Dies wurde Mutter zur Gewohnheit. Sie ging ins Bett, schaltete das Diktiergerät ein, denn erst, wenn sie das Geräusch von Vaters Zähnen hörte, konnte sie einschlafen.
Anna-Tage
Dann folgte eine kurze und glückliche Zeit namens Anna-Tage. Während der Anna-Tage, an denen immer die Herbstsonne schien, verbrachte ich meine Zeit mit Anna. Ich sprach nicht mehr von Vater. Anna sagte, ich könne ruhig von ihm sprechen, nur eben nicht die ganze Zeit. Ich hielt es für sicherer, es überhaupt nicht zu tun. Ich hatte den Eindruck, daß Anna sehr glücklich war. Sie lachte über manches, was ich sagte (aber nur, wenn ich nicht zu sehr versuchte, sie zum Lachen zu bringen). Dann und wann schloss sie die Augen und sagte, Ich kann die Sonne auf meinem Gesicht spüren. So war Anna, als sie in diesem Herbst mit mir zusammen war. Warum also sagte dann der Mann mit der Personenwaage immerzu, wenn ich allein in den Park ging:
Das Mädchen wird dünner.
Ich war Annas Freund. Wir sprachen nicht über Freundschaft, was aber bestimmt auch nicht erforderlich war. Manchmal
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