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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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gingen wir gemeinsam in die Innenstadt. Auf diesen Spaziergängen sagte sie: So vieles von der Stadt wird uns vorenthalten. Wir kennen nur die Teile, in denen wir leben oder Freunde haben oder arbeiten. Wir kennen unsere Routen, unsere kleinen Wege, ganz bestimmte Straßen, aber das ist auch schon alles, was wir kennen. Hier war ich noch nie. Wenn ich dich nicht auf diesen Spaziergängen begleitet hätte, dann hätte ich dies oder das oder jenes nie gesehen. Ich hätte nicht einmal gewußt, daß es überhaupt existiert. Es ist nicht Teil meines Lebens. Ich kenne niemanden, der hier wohnt oder arbeitet. Aber wenigstens habe ich es jetzt gesehen, Francis.
    Ich besuchte mit ihr die Kirche und schaute zu, wie sie die Augen und das Gesicht der heiligen Lucia streichelte. Sie sagte, wenn die Schmerzen in den Augen anfangen, wenn ihre Augen beginnen, hart zu werden, würden die Augen der heiligen Lucia bestimmt weich. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, warum also sagte der Mann mit der Personenwaage immer, wenn ich allein in den Park ging:
    Das Mädchen wird dünner.
    Die Spaziergänge mit dem Pförtner hatte sie schon lange aufgegeben, meine Gesellschaft war ihr lieber. Der Pförtner, bemerkte ich, hatte angefangen, grimmiger sauberzumachen und aufzuräumen, und wann immer ich in seine Nähe kam, fauchte er mich an.
    Anna bat mich, ihr etwas über mich zu erzählen, und als ich ablehnte, schaute sie weg. Sie fragte mich, was ich im Keller aufbewahrte. Ich sagte es ihr nicht, aber sie fragte immer wieder, ließ das Thema nicht auf sich beruhen. Eines Tages ärgerte ich mich über ihre ständigen, immergleichen Fragen und sagte: Liebe, Anna, Liebe wird im Keller aufbewahrt, 995 Objekte der Liebe, alle ordentlich verpackt. Laß sie mich sehen, Francis. Nein. Nein, das kann ich nicht.
    Sie bat mich, die Hindschuhe auszuziehen. Nein, niemals, das kann ich nicht.
    Es dauerte nicht lange, und sie kam nicht mehr zu unseren Spaziergängen. Obgleich sie immer noch bei uns im größten Zimmer von Wohnung 6 saß. Doch wir sprachen nicht miteinander, denn plötzlich hatten wir uns nur noch wenig zu sagen. Ich starrte auf meine Handschuhe oder den Fußboden, sie sah mich die ganze Zeit an. Und jedesmal, wenn ich allein in den Park ging, sagte der Mann mit der Personenwaage:
    Das Mädchen wird dünner.
    Ich wusste, was mit ihr geschah, sah aber keine Möglichkeit, es aufzuhalten: Sie wurde traurig wie wir anderen.
    Eines Nachmittags, als wir zusammen in Wohnung 6 saßen, fragte Anna mich:
    Willst du meine Hand halten, Francis?
    Aber ich hielt nicht ihre Hand, das war klar. Dann sagte sie: Möchtest du mich küssen, Francis?
    Damit hatte ich nicht gerechnet. Und mein Herz hüpfhüpfte vor Freude. Warum also, warum antwortete ich, nachdem ich eine Frage gehört hatte, die mich innerlich Freudensprünge vollführen ließ, die irgendwo in meinem tiefsten Inneren etwas auslöste, warum, warum antwortete ich, wenn ich diese Frage doch so mochte:
    Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen.
Herbst führt zu Winter
    Die Wintermonate näherten sich. Ich war bekannt dafür, daß ich den Winter liebte. Im Winter trugen die Menschen Handschuhe. Natürlich keine weißen Baumwollhandschuhe. Im Winter trugen die Kinder leuchtendbunte Handschuhe, auf deren Finger Gesichter aufgenäht waren, oder sie trugen Fäustlinge. Im Winter zogen Männer und Frauen Wollhandschuhe an: schwarz, rot, grün, blau oder rosa. Oder Lederhandschuhe mit einem Futter aus weicher Wolle oder Seide. Ja, ich liebte diese winterliche Handschuhmanie; ich fühlte mich der Menschheit ein Stück näher.
Anna Taps Liebeskleid
    Die Tage wurden weniger wie die Anna-Tage und mehr wie die Francis-Tage, bis sie schließlich gänzlich wie Francis-Tage waren und aus verschiedenen Aktivitäten bestanden, auf die bereits verwiesen wurde. Sicher, Anna besuchte uns oft in Wohnung 6, aber sie war schüchtern geworden in meiner Gesellschaft und sah mich häufig nicht mehr an, wenn sie sprach. Einmal hinterließ sie mir eine Nachricht, die sie unter der Tür zu meinem Zimmer hindurchschob und die zu verstehen ich außerstande war. Sie lautete:
    Wenn nicht jetzt, wann dann?
    Sie kam und setzte sich mit einem ihrer blauen Kleider, einer Nadel und schwarzem Garn zu uns. Zuerst dachte ich, sie stopfte irgendwelche Löcher, aber mit der Zeit begriff ich, daß Anna Worte auf ihr Kleid stickte. Das erste Wort, das sie schrieb, war Peter. Das zweite Wort, das sie schrieb, war liebte. Das dritte Wort, das

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