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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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dieser Büste mußt du dir Anna als einen neuen Gegenstand vorstellen. Du kannst dir all die Schmerzen ersparen, die ein direkter menschlicher Kontakt mit sich bringt, du kannst das Objekt deiner Liebe (die Wachsbüste) ohne das lästige Durcheinander der Liebe (Anna Tap) haben, wenn du das Objekt liebst und die Person ignorierst. Beschäftige dich damit, solange du willst, denn schon bald wird sie dich langweilen. Dann wirst du sie nicht mehr in deiner Nähe haben wollen. Und langsam begann es zu funktionieren: Ich konnte mich allmählich davon überzeugen, daß ich sowohl der wächsernen als auch der fleischlichen Anna Tap überdrüssig wurde.
Eines Abends
    Eines Abends kam Anna ein wenig tränenfeuchter und gesellschaftssuchender als üblich zu uns. Sie blieb neben dem Esstisch stehen und wartete darauf, dass Mutter oder ich sie aufforderten, sich doch zu uns zu setzen und ihr einen Kaffee anboten. Was jedoch keiner von uns tat. Mutter war eingeschlafen, und ich ließ Anna einfach dort stehen. Sie trat zunehmend verzweifelt von einem Fuß auf den anderen. Bis sie schließlich sprach:
    Ich habe das Fläschchen mit der Aufschrift Dihydrokodeintartrat angestarrt. Heute spürte ich einen neuen Schmerz in den Augen, und als ich die Pillen in die Hand nahm, fühlte ich mich sicherer. Das sollte ich nicht tun, ich weiß. Ich sollte Lucia vertrauen. Aber als ich das Fläschchen wieder wegstellte, spürte ich den Schmerz sofort zurückkehren. Lucia stellt mich nur auf die Probe, Lucia will nur, daß ich ihr vertraue, nicht wahr?
    Ist es nicht langsam an der Zeit, daß du das Observatorium verläßt?
    Francis?
    Reicht das nicht langsam? Merkst du denn nicht, daß wir deiner überdrüssig geworden sind?
    Ich warte auf das Fest der heiligen Lucia.
    Warum? Es wird nichts passieren.
    Es wird, du wirst schon sehen.
    Das glaube ich nicht. Du wirst erblinden, du wirst schon sehr bald erblinden. Und dann?
    Ich werde nicht erblinden.
    Erwarte nicht, daß wir uns dann um dich kümmern. O nein, da spielen wir nicht mit. Vielleicht solltest du besser von hier fortgehen, in ein Heim gehen, wo man sich richtig um dich kümmern kann.
    Ich werde nicht erblinden.
    Es ist doch nur zu deinem Besten. Du solltest wirklich gehen. Und zwar so bald wie möglich. Ich könnte dir jetzt ein Taxi rufen. Das könnte ich für dich tun.
    Man kann ein Blatt aufheben und es vor die Sonne halten. Dann sieht man alles über dieses Blatt, alles, was in seinem Inneren ist, alle Adern, nichts bleibt verborgen. Nachdem ich an diesem Abend mit ihr gesprochen hatte, erging es mir mit Anna genauso. Auf ihrem Gesicht lag ein solch ängstlicher Ausdruck, daß ich meinte, ich könnte daraus alles ablesen, was in ihrem Gehirn und in ihrem Körper vorging: Ich konnte sehen, wie krank sie war, wie leicht man sie aufheben und wegwerfen konnte.
Über Francis und Liebende (2)
    Bald hörte Anna auf zu reden, wenn sie uns besuchen kam. Sie saß einfach nur da mit ihrem Liebeskleid und stickte einen neuen Satz auf das Kleid. An eine Stelle des Kleides, die den Po bedeckt:
    Francis liebt niemanden.
12. Dezember
    Am zwölften Dezember, einem Tag so kurz vor Weihnachten, daß viele Menschen nur noch an das bevorstehende Fest denken konnten, ereignete sich etwas Merkwürdiges. Der Tag begann damit, daß Anna in Wohnung 6 kam und sagte: Morgen, Francis, ist das Fest der heiligen Lucia. Morgen werde ich wieder richtig sehen können, Francis, du wirst staunen.
    Abends dann entdeckte Anna ihre Wachsbüste. Ich war nicht da. Ich leckte unten im Tunnel über meine Unterlippe. Anna besuchte meine Mutter, aber Mutter war eingeschlafen. Anna schlenderte in Wohnung 6 herum und ging in mein Zimmer. Sie fand die Wachsbüste. Sie kehrte in die Küche zurück und holte ein Messer. Sie malträtierte das Gesicht des Wachskopfs. Sie zerstörte die Augen. Dann ging sie in ihre Wohnung und schloß die Tür ab. Sie weigerte sich, mich zu sehen, sie wollte nicht einmal durch die geschlossene Tür mit mir reden. Also beschloß ich, am nächsten Tag, dem lang ersehnten dreizehnten Dezember, die hölzernen Augen der heiligen Lucia zu stehlen und sie in den Wachskopf einzusetzen.
Das Fest der heiligen Lucia
    Mit einem Blick aus dem Fenster am Morgen des Festtags der heiligen Lucia war schon klar, daß es ein Tag war, an dem nichts Wunderbares passieren würde. Die winterliche Witterung sorgte für eine gedrückte Stimmung. Es war ein Tag, an dem man sich am besten sofort wieder ins Bett legte, einschlief

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