Das verlorene Observatorium
Eseln, die Gold kackten, von Drachen, magischen Königreichen, Ungeheuern, Blaubärten, Hexen, Kobolden, Riesen, Trollen und vielen anderen Traumgestalten. Neben den typischen Märchenfiguren erfand Emma eigene. Und von ihren eigenen Geschichten begannen einige nicht in irgendeinem imaginären Königreich, sondern in Tearsham Park. Diese Geschichten fingen häufig so an: Oben im Kinderzimmer ahnte niemand etwas davon, aber unten in der Bibliothek widerfuhr Mr. Orme etwas höchst Außergewöhnliches. Mein Vater, geistesabwesend und geheimnisvoll, den wir so oft irgendwo im Haus antrafen, wie er ins Nichts starrte oder mit einer ungeheuren Neugier vor dem einen oder anderen Gegenstand kauerte, wurde mit Emmas Hilfe zur magischsten Figur von allen. Emma erzählte von Vaters Abenteuern.
Wenn Vater von meiner Mutter auf einen Spaziergang aus dem Haus geschickt worden war, erzählte Emma mir, er sei auf Safari gegangen in ein fremdes, weit entferntes Land, wo die Menschen Köpfe in ihren Bäuchen hatten; wenn wir ihn, von Maulwurfshügeln fasziniert, auf den Weiden sitzen sahen, dann schickte Emma ihn tief hinein in die Erde, wo alte, haarige Leute lebten; oder sie beschwor Stürme herauf, die Vater mit hinauf in den Himmel nahmen, wo er fremdartige, gewichtslose Wesen besuchte, die in den Wolken lebten. Und beinahe glaubte ich all diese Geschichten. Wenn ich Vater anschaute, erschienen sie mir völlig plausibel.
Das Ende von tausend Geschichten
An einem gewissen Tag kam Emma zu spät. Ich ging hinunter, um es Mutter zu sagen. Sie meinte, ich solle im Kinderzimmer warten, Emma würde schon noch kommen. Als sie jedoch nicht kam, ging ich sie suchen. Emmas Haustür war geschlossen, aber nicht verriegelt. Ich ging hinein. Emma saß vor ihrem Kamin. Das Feuer war bereits vor vielen Stunden niedergebrannt. Emmas Augen waren geschlossen. Mit geschlossenen Augen war auch ihre ganze Energie erloschen. Es sah so aus, als wäre ihre Haut aus verbranntem Papier, ihre Kleidung aus Zigarettenasche. Ich war überzeugt, wenn ich pustete, würde ihr Kopf auf die Brust sinken und beide Teile, miteinander verbunden und unergründlich wie Emma, würden schon bald hinabschweben zu dem, was einmal Emmas Füße gewesen waren und dann würde die ganze Emma, die alte Emma, ordentlich in einem kleinen Häufchen dort liegen und darauf warten, weggekehrt zu werden. Das erloschene Kaminfeuer würde wie ihre Zwillingsschwester erscheinen. Aber ich pustete nicht. Emma sank nicht in sich zusammen; ich dachte nur meine kindischen Gedanken.
Ich zog an ihrem Ellbogen. Emma schaute nicht auf.
Die Bibliothek war geschlossen, die Geschichten lagen verschlossen unter ihrer steifen Zunge und würden nie mehr zum Spielen herauskommen. All die Wesen, von den Trollen bis hin zu den Prinzessinnen, all ihre Helden und Abenteuer waren Emmas Hals hinunter in den Abgrund ihrer ruhenden Organe gesunken, inmitten von Blut, das jede Vorstellung davon verloren hatte, was Bewegung war. Emma war ein totes Ding. Sie hatte sich genau in der Mitte ihre Lippen verbrannt, sie hatte eine Lakritzpapierzigarette geraucht, als sie gestorben war und diese hatte sie überlebt. Sie war im erkaltenden Blut ihres Mundes ausgegangen, hatte ihre Lippen noch gewärmt, als alles andere längst kalt wurde. Die letzte warme Stelle an dem Menschen, der mir das Sprechen und das Denken beigebracht hatte, wie ich meine Phantasie benutzen und mir Geschichten ausdenken konnte, die letzte warme Stelle waren die Lippen und die Spitze ihrer Zunge gewesen.
Auf einem Tisch neben dem Kamin lag eine Tabaksdose und ein Bündel schwarzes Zigarettenpapier. Ich nahm sie für meine Freunde, ich übergab sie meinen Taschen (Positionen 44 und 45).
Aber Emma war immer noch auf dem verwahrlosten Kirchenfriedhof anzutreffen. An diesem Tag saß ich da und starrte auf den Grabstein:
EMMA
Unsere zweite Unterhaltung
Ich bemerkte die neue Bewohnerin. Sie stand im Portal der Kirche, rauchte eine Zigarette und beobachtete mich.
Sie sind mir gefolgt, nicht wahr?
Nein, danke.
Warum sind Sie mir gefolgt?
Ich lege Blumen auf das Grab eines Freundes.
Nein. Wollen Sie etwas von mir?
Es wäre besser, wenn Sie bis Ende der Woche verschwunden sind.
Ich habe aber nicht die Absicht zu gehen.
Man hat schon gehört, daß Leute ihre Absichten ändern.
Ich nicht.
Man hat schon gehört, daß Leute, die versprechen, niemals ihre Absichten zu ändern, dann doch ihre Absichten ändern.
Tja, ich jedenfalls nicht.
Wir werden
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