Das verlorene Observatorium
ausziehen zu wollen und ihre Tagesbekleidung anziehen zu wollen, was sie jedoch nicht tun würde, solange sie dabei von einem fremden Mann angestarrt wurde. Ich ging in Mutters Zimmer. Vater war wach, er lag auf Mutters Bett und nuschelte vor sich hin. Ich versuc hte, ihn zu bewegen, ihn vom Bett zu ziehen, ihn zu ermuntern, sich auf den Stuhl zu setzen, aber Vater war viel zu schwer und überhaupt nicht kooperativ. Ich brauchte also Hilfe. Mutter würde mir nicht helfen, sie lehnte es strikt ab, Vater zur Kenntnis za nehmen. Der Pförtner würde nicht helfen, er hatte schon beim letzten Mal, als er sich um Vater kümmerte, Vater wegen eines Speicheltropfens fallengelassen. Claire Higg war zu schwach und sprach ohnehin nicht mehr mit mir. Also blieb nur noch eine Person. Ich klopfte an Miss Taps Wohnungstür, und sie folgte mir die Treppe hinunter. Vater liegt in Mutters Bett, Mutter möchte sich anziehen, sagte ich. Das war alles.
Wir trugen Vater aus Mutters Schlafzimmer. Währenddessen huschte Mutter ins Bad und kam erst wieder heraus, als Vater sich außer Sichtweite in der Küche befand, dann flitzte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Als wir Vaters Allerwertesten auf dem roten Ledersessel ausrichteten, geriet der alte Mann erneut in Panik, zappelte mit seinem schwachen Körper herum und jammerte. Also setzten wir ihn auf einen Stuhl und fütterten ihn.
Mutter sah sich im Spiegel und sagte sehr ruhig:
Sieh sich einer nur diese häßliche alte Hexe an.
Mutter wusch sich, zog ihre Nachtwäsche aus und ein rotes Kleid an. Sie bürstete sich ihr Haar. Sie legte ein wenig Makeup auf. Dann schaute Mutter in den Spiegel und sagte:
Guten Morgen, Alice. Unwiderstehliche Alice.
Und tatsächlich, Mutter war eine attraktive Frau, wenn sie sich die Zeit nahm, ihre Hässlichkeit zu beseitigen.
Allmählich setzte unser Alltag ein
In jenen ersten Tagen nach seiner Rückkehr fiel es Vater sehr schwer, sich zu bewegen. Doch langsam und mit viel Ermunterung brachten Anna Tap und ich, wie Eltern ihrem Kind, Vater bei zu gehen. Einer stellte sich hinter Vater, der andere vor ihn, und dann forderten wir ihn behutsam auf, ein paar Schritte zu versuchen. Manchmal fiel er hin, meistens jedoch fingen wir ihn auf. Was für ein schweres Kind Vater doch war. Aber er machte schnell Fortschritte, und schon bald konnten wir mit ihm Wohnung 6 verlassen und auf den Hausflur gehen. Mit der Zeit lernte er, auf allen vieren die Treppe hochzugehen. Hinunterzugehen war da schon gefährlicher. Er umklammerte das Geländer, bis seine Knöchel weiß vorsprangen und sich weigerten, wieder loszulassen. Aber langsam und mit viel Geduld, jeden einzelnen Schritt als eine eigenständige Reise verstehend, gelang es uns, ihn zurück nach Hause zu bringen.
Mutter machte schnellere Fortschritte. Sie verließ Wohnung 6 schon am ersten Tag ihrer Rückkehr zu uns. Eine Woche später schaffte sie unter Aufsicht einen kurzen Spaziergang im Park. Die meisten ihrer Tage jedoch verbrachte sie im Observatorium. Sie ging von einer leeren Wohnung zur anderen, zischte den Pförtner an und schaute mit Claire Higg fern.
Vaters verstaubtes Gebiß fanden wir in einer Schublade. Wir reinigten es und sagten: Weit aufmachen. Nachts verhüllten wir den roten Ledersessel mit Laken und Kopfkissen und brachten Vater an diesen ihm vertrauten Ort. Er schlief nicht gut, häufig hörte man ihn zu den Sternen rufen.
Wir wechselten uns bei der Versorgung von Mutter und Vater ab. Normalerweise nahm ich Mutter und Anna übernahm Vater, oft beaufsichtigten wir aber auch einen Elternteil gemeinsam. Zuerst mochte Mutter Anna Tap überhaupt nicht, sie nannte sie eine Photodiebin und erst nachdem Anna ihr viele Gefälligkeiten erwiesen hatte, fing sie an, ihre Gesellschaft als erträglich anzusehen. Allerdings blieb Mutter dabei, von Vater als dieser fremde Mann zu sprechen und wenn wir sie darüber aufklärten, dass dieser fremde Mann in Wirklichkeit ihr Ehemann sei, entgegnete sie stets: Unsinn, mein Mann ist vor vielen Jahren an einem Schlaganfall gestorben.
In den folgenden Wochen war die Zeit zweigeteilt. Mutter und Vater sahen sich zwar am selben Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Vater sah sich in Tearsham Park um und konnte nicht verstehen, warum sich alles so verändert hatte. Mutter wusste, dass sie im Observatorium war und zwar nicht in dem Observatorium, in dem sie glücklich war; sie befand sich im jetzigen Observatorium, dem auseinanderbröckelnden
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