Das verlorene Observatorium
half, alles, was Mutter gehörte, in einem Zimmer unterzubringen. Ich stahl alle Geschenke zurück, die sie je gemacht hatte. Ich stapelte Gegenstände in Mutters Zimmer. Und sie bezahlte mich für jeden zurückgebrachten Gegenstand. Als ich Mutters gesamte Erinnerungen beisammen hatte, saß ich in ihrem Zimmer, hielt ihr die Hand und wir lachten zusammen. Die Ausstellung von Mutter war eine der größten Leistungen meines Lebens, wurde nur noch übertroffen von der anderen Ausstellung unten im Keller, im Tunnel, der zur Kirche führte. Und wie belohnte mich Mutter für mein Genie? Sie schloß sich ein und liebte nur noch ihre Vergangenheit und ihre Gegenstände. Mutter machte sich zum Geist.
Tearsham Park
Mein Vater beklagte sich, die Gerüche seien falsch. Das ganze Observatorium durchzog ein Geruch nach Feuchtigkeit sowie der modrige, süßliche Duft von Ratten. So war es früher nie, sagte er, es roch immer nach Holzpolitur, sie polierten ständig die Bodendielen aus Eiche. Oder es duftete nach den köstlichen Wohlgerüchen aus der Küche. Nachdem seine ersten Versuche, die Räume von Tearsham Park wiederzuentdecken, vor gebrochen weißen Wänden und zerrissenen Tapeten geendet hatten, beschloß mein Vater, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Er entschied, mit seiner Kindheit anzufangen und sich dann langsam und methodisch vorzuarbeiten. Er war überzeugt, daß dieser Erinnerungsprozeß ihm am Ende das ganze und vertraute Tearsham Park erschließen würde, daß er etwas vergessen haben mußte, was ihm eine Erklärung für alles liefern mochte, und daß dieses Gebäude ein kompliziertes Puzzle war, das es galt zusammenzusetzen.
Das Observatorium
Mutter sagte: Hier stehe ich auf der zweiten Etage vor Wohnung 12. Zu meiner Rechten befindet sich Wohnung 13, zu meiner Linken haben wir Wohnung 11. In Wohnung 12 lebt eine Mutter. Zu beiden Seiten ihres Lebens zwei Töchter. Ich öffne die Tür zu Wohnung 12: Hier sehen wir die Mutter, sie heißt Elizabeth. Ich öffne die Tür zu Wohnung 13: Hier sehen wir die Tochter namens Christa. Ich öffne die Tür zu Wohnung u: Hier sehen wir die Tochter namens Eva. Die Schwestern waren Zwillinge, aber in meinem ganzen Leben bin ich niemals Zwillingen begegnet, die einander so wenig ähnlich sahen. Christa war groß und dünn. Eva war klein und fett. Elizabeth, ihre Mutter, war groß und fett, allerdings hatte sie Krebs, was sie zunehmend kleiner und dünner werden ließ. Ich schließe die Tür von Wohnung 12. Mutter Elizabeth ist gestorben. Ich öffne die Tür von Wohnung 12, die Mutter ist beerdigt. Jetzt befinden sich die beiden Töchter in Wohnung 12, früher so nett und freundlich, doch jetzt schreien sie und kratzen sich. Sie teilen die gesamte Habe ihrer Mutter unter sich auf. Einst waren die Schwestern unzertrennlich, sie verbrachten ihre Tage mit der Pflege ihrer kranken Mutter. Nie habe ich bei Kindern eine solch liebevolle Hingabe gesehen. Allerdings habe ich auch nie solch streitsüchtige Schwestern erlebt, als es nach dem Tod der Mutter darum ging, ihren Besitz aufzuteilen. Sie gehen durch die Wohnung. Die eine hat ein Blatt mit kleinen, runden, roten Aufklebern in der Hand. Die andere hat ein Blatt mit kleinen, runden, grünen Aufklebern in der Hand. Sie gehen durch die Wohnung und befestigen die Klebepunkte auf verschiedenen Gegenständen. Sie streiten sich. Wenn die eine einen roten Aufkleber auf einem Gegenstand erspäht, verlangt sie, daß er sofort entfernt wird, damit er gegen einen grünen Aufkleber ausgetauscht werden kann. Und umgekehrt. Manche Gegenstände tragen grüne oder rote Aufkleber, und genau unter ihnen, nicht zu erkennen, befinden sich rote oder grüne Aufkleber. Dann bleiben beide vor einem Gegenstand stehen. Der Gegenstand ist ein Memoire-Ring, den ihre Mutter von ihrem lange zuvor verstorbenen Mann erhalten hatte. Es ist ein wunderschöner dicker Silberring mit einem kostbaren Diamanten. Eva sagt, der Diamant gehöre ihr, aber Christa widerspricht. Der Diamant ist voller grüner und roter Aufkleber. Sie brüllen sich an, ihre Wortgefechte sind im ganzen Gebäude zu hören, alle Bewohner kommen neugierig aus ihren Wohnungen und stehen in den Türen, versuchen, mehr mitzubekommen. Beide Schwestern behaupten: Meine Mutter hat diesen Ring als Zeichen der Liebe erhalten. Ich habe Mutter geliebt, ich habe Vater mehr geliebt als du, also ist es nur recht, daß ich den Ring bekomme. Sie beschimpfen sich. Sie schlagen sich. Sie werfen sich
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