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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Betrachtung des Universums verbracht. Mein Vater hatte, viele Jahre bevor es das Observatorium gab, Stille mit Weisheit verwechselt. Damals hatte er noch nicht seine unglaubliche innere Reglosigkeit gelernt, die ich später in Ehren halten sollte.
    Als Vater noch ein Kind war, erhielt er an einem Geburtstag ein Mikroskop geschenkt, und so nahm seine unerschrockene Analyse des Lebens ihren Anfang.
Klein-Vater und das Mikroskop-Abenteuer
    Das Erscheinen dieses Geschenks fiel zeitlich zusammen mit Vaters Abwesenheit von der äußeren Welt. In jener Zeit war er über seinem Spielzeug kauernd im Kinderzimmer zu finden, wo er fasziniert ein Haar, die Innereien einer zerquetschten Ameise, Hefe oder Wasserflöhe anstarrte. Vaters Welt war damals winzig klein. Und so waren auch Vaters Gedanken. Vaters Gedanken waren so winzig klein, daß sie eigentlich kaum Gedanken waren, sie waren Halbgedanken oder Viertelgedanken. Und all diese Gedankenfragmente kreisten ausschließlich um die Reduzierung von allem, was er um sich herum sah, auf dessen kleinsten Teil, auf eine einzelne Zelle. Wann immer er seinen Vater oder seine Mutter sah, meinen Großvater oder meine Großmutter, runzelte er die Stirn und reduzierte seine Eltern auf die noch in seiner Erinnerung haftenden Dimensionen und Farben einer einzelnen Blutzelle. Dann erst entspannte sich mein Vater. In seinem Kopf speicherte er ein kleines visuelles Wörterbuch winziger Dinge, die ohne Hilfsmittel für das menschliche Auge unsichtbar waren. Sein Verstand sezierte alles, bis es nicht mehr weiter ging. Dort lauerte Vater, unter dem Blick eines mächtigen Objektivs mit 1000facher Vergrößerung. Er lebte dort, es war der einzige Ort, an dem er funktionieren konnte. Vater verwandelte sich auf bedenkliche Weise in das winzigste Molekül. Vor Menschen schreckte er zurück, empfand ihre gewaltigen Ausmaße als angsteinflößend. Falls er einmal zufällig aus dem Fenster schaute, konnte ihm die Ausdehnung des Horizonts panische Angst einjagen. Eine Maus, dachte er, war zwar nicht in der Lage, ihn zu fressen, könnte ihn aber einatmen. Eine gewöhnliche Stubenfliege trat womöglich mit einem ihrer borstigen Füße auf ihn und zerquetschte ihn. Es war ein hochgefährliches Leben für Vater, als Vater eine kreisförmige Blutzelle mit einem Planeten verwechselte.
Mein Vater durch sein Vergrößerungsglas
    Meine Großeltern glaubten zunächst, die Besessenheit meines Vaters von seinem Mikroskop sei auf eine Leidenschaft für die Wissenschaft zurückzuführen. Eine Zeitlang unterstützten sie sogar seine langen Nachmittage oben im Kinderzimmer, wo er sich in Mesophyll- oder Epithelzellen verlor. Zu seinem nächsten Geburtstag schenkte man ihm daher einen Chemiekasten. Mein Vater öffnete den Chemiekasten nie. Er blieb im Kinderzimmer, hockte mit gekrümmtem Rücken zitternd und vor sich hin murmelnd in einer Ecke. Falls man ihn bewegte, begann mein Vater am ganzen Körper zu zittern, Tränen schössen aus seinen Augen, sein Gesicht erstarrte zu einem Ausdruck unstillbarer Angst. Schließlich kam mein Großvater auf eine Idee, die einen der zwei genialen Momente darstellte, die er in seiner ansonsten gänzlich wohlhabenden und völlig banalen Existenz erlebte. Ein Vergrößerungsglas, eine Lupe. Großvater schenkte Vater eine Lupe. Vater warf einen Blick durch die Lupe und wuchs sofort. Jetzt war Vater zwar immer noch klein, aber andererseits auch wieder groß genug, um viele seiner Ängste abzulegen. Er war kein Molekül mehr, jetzt hatte er in etwa die Größe eines Streichholzes. Vor Mäusen hatte er immer noch Angst und auch vor Fliegen, aber solange keine Tiere oder Insekten in seiner Nähe waren, war er völlig ruhig, und man erlebte gar, daß er bisweilen schüchterne Gespräche führte. Kurz vor seinem Tod hatte mein Großvater seine zweite brillante Idee. Eines Nachts, als Vater schlief, schlich er ins Kinderzimmer und borgte sich Vaters Lupe aus. Er ersetzte die runde Linse durch ein einfaches Stück Glas und legte es dann wieder zurück.
    Daraufhin betrat Vater das nächste Stadium seiner Analyse des Lebens. Jetzt hatte Vater eine normale menschliche Größe, ein Meter fünfundachtzig, um genau zu sein. Er war immer noch dafür bekannt, sich Gegenständen zu nähern und sie durch seine Lupe anzustarren. Ich glaube, ihr kreisförmiger Rahmen half ihm, sich zu konzentrieren.
Observatoriumsnächte
    Die Observatoriumsnächte gehörten zu den mit Abstand größten und kostspieligsten

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