Das verlorene Regiment 01 - Der letzte Befehl
das immer seine liebste Tageszeit: noch dunkel genug, um hinaussteigen, die Beine strecken und einfach der sanften Stille vor dem Morgengrauen lauschen zu können. In solchen Augenblicken schien es, als wäre der Krieg Millionen Kilometer entfernt.
»Vielleicht sieht es auf einer anderen Welt gerade genauso aus«, überlegte Emil ruhig.
»Wo in aller Welt sind wir nur?«, fragte Andrew.
Der Doktor lächelte traurig und schüttelte den Kopf, während er zum Himmel hinaufblickte.
»Ich weiß nicht, wie oder warum«, sagte er, und in seinem Ton schwang eine Spur Ehrfurcht mit, »aber ich denke, wo immer unser Krieg tobt, es liegt irgendwo dort draußen. Wir sind nicht mehr auf der Erde, so viel ist sicher. Allein der Himmel beweist das schon.«
»Aber diese Leute«, begann Andrew und deutete auf die Lagerfeuer, die einen leuchtenden Bogen um sie bildeten.
»Nur Gott kennt die Antwort, Colonel. Aber dieser Kal ist jetzt seit drei Tagen bei uns. Seine Sprache ist das Russische oder zumindest eine Form davon. Sie wissen das, und ich weiß es auch.«
»Sieht für mich nach zehntem, vielleicht elftem Jahrhundert aus, würde ich sagen«, überlegte Andrew, als richtete er die Worte an sich selbst. »Aber wie ist das möglich, verdammt? Wie? Nach dem bisschen zu urteilen, das ich von Kal lernen konnte, spricht er von etwas, das er die Urchronik nennt; sie erzählt davon, wie sein Volk einen Fluss aus Licht überquert hat, der es hierherführte. Ich kann mich erinnern, dass die Urchronik eine Geschichte der frühen Russen darstellt. Nur sind wir hier nicht in Russland. Der Himmel und die seltsame rote Sonne beweisen das. Also sagen Sie mir, Emil: wo sind wir?«
Emil hob die Hand und legte sie Andrew auf die Schulter. »Das braucht Sie nicht zu bekümmern, falls ich so kühn sein darf«, sagte er scharf.
»Und was möchten Sie damit sagen?«, wollte Andrew wissen, den der Ton des Doktors ein wenig ärgerte.
»Andrew, Sie zerbrechen sich den Kopf über das Unmögliche. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir jedoch das Wie oder Warum nie erfahren. Selbst wenn wir es täten, könnten wir wahrscheinlich nichts daran ändern. Ihre Aufgabe ist es jetzt zu führen. Eine Möglichkeit zu finden, wie wir auf dieser Welt überleben können. Falls wir je eine Antwort finden, kümmern wir uns dann darum. Wir können jedoch nicht ewig in dieser Umzingelung ausharren. Wir müssen erst mal einen Ort finden, wo wir leben können.«
Emil brach ab, griff lächelnd unter den Uniformrock, zog eine Feldflasche hervor und reichte sie ihm.
Wortlos entkorkte Andrew sie und nahm einen tiefen Schluck.
»Irgendwie müssen wir eine Übereinkunft mit diesen Leuten da draußen erreichen. Sie kommandieren jetzt kein Regiment mehr – Sie sind der kommandierende General und gleichzeitig Diplomat.«
»Sie möchten mir damit wohl sagen, dass ich mir nicht mehr den Kopf zerbrechen, sondern meinen Job tun soll, nicht wahr?«, fragte Andrew kalt.
»Nur, dass ihr Historikertypen immer alle Antworten kennen möchtet«, lachte Emil leise.
Andrew wandte sich für einen Augenblick ab. Er wusste, dass der alte Doktor Recht hatte. Seit drei Tagen war das Regiment jetzt hier, eingegraben und verängstigt. Und er selbst spürte diese Angst auch. Nur eiserne Disziplin hielt ihn auf den Beinen, der mechanischen Routine der Regimentsführung folgend. Abends saß er mit Kal zusammen und versuchte dessen Sprache zu meistern. Aber wenn er allein war, kroch das kalte Grauen wieder in ihn hinein.
Was sollte er jetzt tun?
»Sorgen Sie sich um unser Überleben«, empfahl ihm Emil leise, als läse er seine Gedanken. »Gestatten Sie, dass ich derweil meine Zeit in die Frage nach dem Wie und Warum all dessen investiere.«
Andrew wandte sich erneut dem Doktor zu und lächelte.
»Wo zum Teufel steckt dieser Hans? Es wird Zeit, dass die Männer aufstehen. Nach dem Morgenappell setzen wir beide uns mit Kal zusammen.« Er verschloss die Flasche und warf sie dem Doktor zu.
»Bojar. Ich Keane möchte euren Bojaren treffen.«
Diese Worte glaubte Kal wenigstens zu hören. Verdammt seltsam, wie diese Leute die Muttersprache auszusprechen versuchten. Er sah Andrew an und lächelte. »Sie, Cane, treffen Iwor, reden über Frieden. Ich kehren zurück zu Iwor und reden für Sie über Frieden«, versuchte sich Kal nun in Englisch.
Andrew lächelte und nickte übertrieben. Kal konnte sich ein lautloses Lachen nicht verkneifen. Innerhalb von drei Tagen hatte er die Sprache dieser
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